Man verzeihe mir; ich als 'Frischling' hatte übersehen, dass es hier im Forum offenbar gerne gesehen wird, wenn man sich sofort in eindeutiger Weise positioniert, auf dass man von den 'alten Hasen' angemessen rubrifiziert werden kann; so ganz nach dem Motto: Bekenne dich - bist du ein zukunftszugewandter, fortschrittsgläubiger Freund alles Neuen und Modernen oder aber ein fachwerk- und butzenscheibenseliger, innovationsverhindernder Ewiggestriger?
Insgeheim bewundere ich ja diejenigen, die zu allem und jedem sofort eine festgefügte, unerschütterliche Pauschalmeinung haben: Sei es zu Stuttgart 21, der Architektur der 50er oder über die Vertreter und Anhänger bestimmter Parteien. Das Denken in solchen Schubladen macht das Leben sicher in vielen Punkten leichter und überschauberer. Mir gelingt dies leider nur gelegentlich, weil ich die lästige Angewohnheit habe, verschiedene Denk- und Sichtweisen einzunehmen und das eigene Irren stets mit einzukalkulieren - ob's eine Folge meines schwachen Geschlechts ist?:D
Nehmen wir nochmals das Beispiel der neuen Stadtbibliothek: In der Tat spricht mich das Gebäude bei meinem derzeitigen Kenntnisstand - (es ist noch nicht ganz fertig, ich war noch nicht drin und es fehlt auch noch der städtebauliche Kontext) - überhaupt nicht an, und mit "ambient" vermag ich das Ganze nur schwer zu verknüpfen; vielleicht eher noch mit minimal music. Ich kann aber doch trotzdem versuchen, die gedankliche Ansatzweise des Architekten einzubeziehen und zu verstehen. Mag sein, dass ich in ein paar Jahren eine deutlich andere Haltung zu dem Entwurf einnehme als heute; nichts finde ich langweiliger und bedenklicher, als wenn man über Jahre nur festgefügte Positionen vertritt und nicht auch bereit ist, eigene Urteile gegebenenfalls zu revidieren.
Mein Impetus im letzten Beitrag war eigentlich nur, eine Diskussion darüber anzustoßen, welche Kriterien denn städtische Architektur (ich meine hier bewusst nicht den Solitär auf der grünen Wiese oder im Industriegebiet) generell erfüllen muss, um als gelungen betrachtet zu werden. Verknüpft hatte ich das mit einem gewissen Erstaunen darüber, dass offenbar auch starke Verfechter einer modernen Architektursprache wie Schwabenpfeil und madmind in Kategorien von Popularität und Gefallen denken, obwohl man (ich nehme jetzt die Perspektive radikalerer Modernisten ein) eigentlich annehmen könnte, dass sie derartig im Oberflächlichen verhaftete Begrifflichkeiten eher als spießig-verstaubt ablehnen.
Ich gestehe freimütig, dass ich im Bezug auf Architektur teilweise eine ambivalente Haltung bei mir konstatiere, die mich in einigen Fällen schwanken lässt und die es anderen - sorry, madmind - ganz schwer macht, mich passend einzusortieren.
Auf der rationalen Ebene bin ich durchaus ein Freund und Verfechter moderner Architektur, gehe etwa offen und teils durchaus begeistert durch die wachsende Hafencity, so oft ich in Hamburg bin und würde auch dieses Stuttgart-Forum nicht so aufmerksam verfolgen, wenn mich Neues Bauen langweilen oder gar abstoßen würde. Bei manch Kühnerem, etwa dem Centre Pompidou (danke für das Beispiel und die Reaktion, Marco!), habe ich mir eine differenzierende Haltung erarbeitet, finde derartige Entwürfe auch spannend, würde sie allerdings nicht in jedem Kontext (etwa am Karlsplatz) begrüßen.
Auf der anderen, emotionalen Seite kann ich aber nicht verhehlen, dass mich die klassisch geprägten, mit Augenmaß weiterentwickelten europäischen Stadtbilder (etwa auch meiner neuen Heimat München) enorm faszinieren und ich mich dann immer frage, ob und wie etwas von diesem Ansprechenden auch für die Stuttgarter Innenstadt wiedergewonnen werden könnte. Bevor jetzt gleich wieder die 'Fachwerk-Butzenscheiben-Disneyland-Keule' kommt: Nein, das muss nicht automatisch heißen, historische Architekturstile sklavisch zu imitieren. Entsprechend war auch mein (durchaus fragend gemeinter) Hinweis auf allgemeingültige Gestaltungsprinzipien gemeint.
Historische Gebäude sind nicht per se hochwertig, und man kann bei einem Bau wie dem "Haus der Wirtschaft" (oder auch dem Hotel Silber in seiner ursprünglichen, etwas schnörkelig-überladenen Form) durchaus darüber streiten, ob es sich dabei um gute Architektur handelt. In der Nachkriegszeit galt all das Gründerzeitliche, Klassizistische und Neogotische als ausgesprochen minderwertig, und mancher bedauerte offen, dass der Krieg grade davon (z.B. im Westen) so viel übrig gelassen hatte. Und doch vermitteln die redseligen Fassaden früherer Epochen für viele (und ich gestehe: auch für mich) ein besonderes Gefühl von Vertrautheit und Ästhetik, das man nicht missen möchte. Ist es nur ein Relikt kleingeistigen Spießertums, das man bei entsprechendem geistigen Horizont und genügender Aufgeschlossenheit für Neues leicht hinter sich lassen kann und muss, oder steckt doch mehr und Grundsätzlicheres dahinter? Vielleicht weiß jemand eine Antwort...