Interessant – das meine ich jetzt ganz ohne die bei mir manchmal nicht zu unterdrückende Ironie! –, wie doch die ästhetischen und sonstigen Empfindungen auseinanderklaffen können, wobei ich freilich auch schon an anderer Stelle im Forum feststellen durfte, dass madmind und ich einfach extrem unterschiedlich zu ticken scheinen…
Grundsätzlich bin ich immer bereit, eigene Positionen kritisch zu überprüfen und mir die Frage zu stellen, ob ich möglicherweise nur eine völlig unmaßgebliche Minderheitenmeinung vertrete. Hans.maulwurf ist mir ja – ungeachtet seines nicknames – schon etwas beigesprungen, wobei ich mit ihm aber auch darin übereinstimme, dass am Schlossplatz und auf der Königstraße zumindest eine Stadtbahn Stuttgarter Prägung heute nur noch schwer vorstellbar wäre. Anders sieht’s an weiteren innerstädtische Orten aus: Betrachtet man sich historische Aufnahmen, muss man zumindest aus meiner Sicht feststellen: Schöner sind etwa der Charlottenplatz oder der Arnulf-Klett-Platz durch den Wegfall der Straßenbahn nicht eben geworden.
Nebenbei und etwas off topic bemerkt: Derzeit ist in Nürnberg unter dem Titel „Plätze in Deutschland 1950 und heute“ eine Ausstellung zu sehen, die anhand der simplen Gegenüberstellung historischer und aktueller Fotos einen teilweise bestürzenden Niedergang in der Stadtraumgestaltung dokumentiert.
http://www.sueddeutsche.de/kul…erbaermlichkeit-1.1867869
Für mich stellt die Stadtbahn keine urbane Bereicherung dar. Selbst mit einer Niederflurtechnik würde ich die Stadtbahn gerne komplett unter der Erde sehen, da ich einfach nichts schönes an den Gleisanlagen, den Haltestellen und den Stromversorgungsleitungen sehen kann. Das sage ich übrigens als Dauer-ÖPNV-Nutzer....
Wie schon in meinem letzten Beitrag erwähnt, mag Stuttgart mit seiner teils sehr „u-bahnesk“ daherkommenden Stadtbahn einen Sonderfall bilden, bei dem die verträgliche Einbindung ins Stadtbild da und dort bemüht oder auch misslungen wirkt. Doch madmind geht in seiner dezidierten Wortmeldung ja ins Generalisierendere, indem er jegliches innerstädtische Schienenverkehrsmittel zum Störfaktor erklärt.
Ohne spontan detaillierte Zahlen und Quellen präsentieren zu können, sehen das nach meinem Eindruck Einheimische wie Besucher in Städten wie München, Wien, Zürich, Prag, Lissabon usw. anders; niemand käme dort ernsthaft auf die Idee, die ausgedehnten Straßenbahnnetze auch nur irgendwo zu untertunneln – und das hat nichts mit mangelnden finanziellen Mitteln zu tun. Bemerkenswerter Weise schreibt man all den genannten Metropolen einen überdurchschnittlich hohen Attraktivitätsfaktor zu.
Madmind stört sich an den „Gleisanlagen“, „Haltestellen“ und „Stromversorgungsleitungen“. Dabei scheint es, wenn man entsprechende Quellen studiert, mittlerweile in der modernen Stadtplanung weitgehend „common sense“ zu sein, dass Schienenbahnen sich eben gut in den urbanen Raum einfügen lassen, ohne ihn zu zerstören: Der Gleiskörper reduziert sich in der Praxis auf zwei (bzw. vier) Rillen im Asphalt, Kopfsteinpflaster oder jedem beliebigen sonstigen Belag; er kann aber bekanntlich ebenso in einem Rasenkörper, einer Sommerblumenwiese o.ä. verschwinden. Zu den Haltestellen: Hochbahnsteige sind (siehe oben) fraglos oft problematisch, wobei selbst in Stuttgart an ein paar sensiblen Stellen (etwa Daimlerplatz Bad Cannstatt) die Einbindung akzeptabel gelungen ist. Bei Niederflurbahnsteigen vermag ich die Ablehnung gar nicht nachzuvollziehen, denn dann müsste man auch Bushaltestellen, Verkehrsinseln sowie sonstige Schilder und Masten als ästhetische Zumutung empfinden.
Zuletzt der Fahrdraht: Einmal mehr gibt Stuttgart mit aufwendiger Abspannung und teils sehr massiven Masten nicht immer das beste Beispiel, wobei es andererseits etwa beim Streckenneubau in der Alexanderstraße (U15) gelungen ist, die Oberleitung wie eh und je mit Mauerhaken unauffällig an den Häusern zu montieren. Generell gilt aber: Es ginge bei Masten und Spannungsversorgung wesentlich filigraner, und für städtebaulich hypersensible Zonen besteht mittlerweile sogar die Option, durch Energiespeicher gewisse Abschnitte oberleitungslos zu durchfahren.
Madmind ist es laut eigener Aussage gleichgültig, ob er „aussichtslos“ durch die Gegend rollt oder nicht, da seine Fahrten stets nur dem Zwecke des Befördertwerdens von A nach B dienen. Dies wird bei anderen ÖPNV-Nutzern meist nicht anders sein, und doch gibt’s eben auch Faktoren, die über den reinen Transportaspekt hinausreichen. Dass manche Fahrgäste gerne hinausschauen, lässt sich übrigens schon daran ablesen, in welchem Maße die bei manchen Verkehrsbetrieben geübte Praktik, Fensterflächen in die Fahrzeugwerbung miteinzubeziehen, immer wieder zu erheblichen Protesten führt.
Der Stadtplaner Johannes Bouchain, der auf einer eigenen Internetseite eine energische Lanze für Tram & Co bricht, führt aber noch wesentlich mehr Punkte auf, die die Frage einer unter- oder oberirdischen Fortbewegung keineswegs so sekundär werden lassen, wie es vielleicht manchem zunächst scheint:
Im Unterschied zum U-Bahn-Nutzer, der den Stadtraum stets nur punktuell erleben kann, ermöglicht die Oberflächenbahn ihren Fahrgästen, sich ein durchgängiges Bild zu machen. Noch viel bedeutsamer ist jedoch der sozialräumliche Aspekt, indem die sichtbar präsenten Gleise und Bahnen eine starke Verbindungswirkung signalisieren. Grade zu Tagesrandzeiten, bei denen man sich nicht nur als Frau (man denke an die tödlichen Übergriffe in München und Berlin) in einer noch so adrett gestalteten, kameraüberwachten U-Bahnstation meist recht unwohl fühlt, bietet laut Bouchain die im Straßenraum verkehrende Bahn „eine soziale Kontrolle von innen nach außen und umgekehrt“ und wirke damit „kriminalitätshemmend“.
http://www.stadtbahnqualitaeten.de/stadtraum.html
Als man bei der Umstellung des Astes nach Stuttgart-Stammheim diskutierte, ob die zukünftige Linie U15 ober- oder unterirdisch durch die Unterländer Straße fahren solle, sprachen sich die meisten Einzelhändler entschieden für die Untergrundlösung aus, weil sie um Parkplätze für ihre Kundschaft fürchteten. Tragikomischer Weise erlebten allerdings mehrere Läden der Haupt-Tunnelverfechter die Einweihung der neuen U-Stadtbahnstrecke gar nicht mehr – mutmaßlich, weil die Behinderungen während der Bauzeit ihre Kundschaft vergrault hatten…
Anderswo denkt man da inzwischen generell eher um, nachdem sich herumgesprochen hat, dass es durchaus werbewirksam sein kann, wenn ein Laden im Vorbeifahren gesehen wird und man nur schnell mal die Fahrt unterbrechen muss, um seine Einkäufe zu erledigen.
„Ist ja in der Theorie alles recht und schön, was sie sich da wieder zusammengegoogelt“ hat, mag der eine oder andere Forenkollege an dieser Stelle sicher einwenden; „aber wie sieht’s denn in der Praxis aus?“
Nun – da gibt es seit einigen Jahren Erfahrungswerte insbesondere aus Frankreich, das einige Jahrzehnte der Straßenbahn nahezu komplett abgeschworen hatte. Stadtväter- und mütter im Verein mit Planern, deren Überzeugungen sich grundlegend von jenen madminds zu unterscheiden scheinen, sorgten und sorgen noch für eine beispiellose Renaissance der „tram“, die inzwischen zum regelrechten Symbol und zur Initialzündung für eine moderne, menschengerechte Stadtplanung geworden ist. Angesichts der rundum gelungenen Umgestaltung urbaner Räume im Zuge des Baues neuer Straßenbahnlinien fragt man sich manchmal, warum Vergleichbares hierzulande so selten gelingt – ob’s, neben anderen, vielleicht lobbybedingten Ursachen doch auch an einem bei unseren westlichen Nachbarn einfach feinsinniger wie auch sinnlicher ausgeprägten ästhetischen Empfinden liegt?
http://www.spiegel.de/spiegelspecial/a-561628.html
Während madmind sich im Stadtkontext an Gleisen und Oberleitungen stört, leide ich persönlich in sensiblen Momenten eher unter ganz anderen Erscheinungen – etwa darunter, wie lückenlos Stoßstange an Stoßstange sämtliche, auch architektonisch eigentlich höchst sehenswerte Straßen jeder Stadt heutzutage bis hin zu den „rundgeparkten“ Kreuzungen zugestellt sind - ein Monitum, das die Mehrheit hier im Forum zweifellos achselzuckend oder gar mit Kopfschütteln ob solch verbohrt-sektiererischer Autofeindlichkeit zur Kenntnis nehmen wird. Dass die PKW-Dichte nun mal so ist wie sie ist und sich die Fahrzeuge nach ihrem Abstellen nicht einfach in Luft auflösen können, ist auch mir bewusst. Und doch: Als es Filmaufnahmen in meiner neuen Heimatstadt vor einigen Monaten mit sich brachten, dass eine normalerweise durchgehend autogesäumte Straße sich durch Sperrung plötzlich völlig frei und unverstellt präsentierte, wurde mir erst wieder bewusst, was uns da eigentlich an ästhetischer Qualität im Alltag entgeht…
Ich habe dieses Beispiel nicht gewählt, um zum Ende neuerlich die Rivalität Auto vs. innerstädtischer Schienenverkehr aufs Tapet zu bringen, die hier eigentlich explizit ausgespart werden sollte. Vielmehr wollte ich schlicht und einfach greifbar machen, dass das Empfinden darüber, was ein Stadtbild bereichert und was eher nicht, eben extrem unterschiedlich ausfallen kann.