Das halte ich überwiegend für Wunschdenken. Und Wunschdenken verleitet dazu, auf Probleme nicht ausreichend zu reagieren. Berlinbashing liegt mir fern - im Gegenteil. Ich sehe Berlin allerdings in der Phase des Alkoholikers, der sich noch mit aller Macht dagegen wehrt zu erkennen, dass er einer ist: "Denial".
Man kann es an einer ganz einfachen Zahl festmachen: Es ist gar nicht so lange her als Berlin noch Pläne hatte, den BER auf 40 Mio auszubauen. Davon redet zurecht niemand mehr. Berlin und sein Flughafen hat jahrelang relativ zu anderen Metropolen Boden gut gemacht. Jetzt passiert das Gegenteil - und ich sehe da auch bisher keinen Grund für eine Trendumkehr.
Man kann es auch an der Zahl der internationalen Besucher festmachen. Auch hier fällt Berlin in den Rankings - und liegt gerade noch auf Platz 41! (Link). Dass Berlin vom Tourismus überlaufen wird und das Touristen Berlin zerstören: Auf die Idee kann man meines Erachtens nur kommen, wenn man Berlin nie verlassen hat
Es ist auch nicht egal, woher die Besucher kommen und wie sie herkommen. Der dauerhafte Wegfall kaufkraftstarker russischer Touristen ist für Viele in Berlin drastisch spürbar: Von gehobenen Restaurants bis zu den Luxusläden am Ku'damm oder in der Friedrichstrasse. Der Luxustourist lässt hier an einem Wochenende 5000 Euro plus. Für denselben Umsatz braucht man 10 Bustouristen. Die Rechnung geht nicht auf. Kann man mögen oder nicht. Es gibt einen Grund warum das Regent geschlossen ist. Auch bei den kaufkraftstarken Skandinaviern gibt es einen Wandel (den ich allerdings nur anekdotisch kenne). Anders als bei den Billig-Partytouristen ist es hier nicht so, dass denen die Kohle für den teuer gewordenen Berlintrip fehlt. Sondern dort ist die Überlegung: Wenn Berlin schon fast so teuer ist wie Paris, kann ich fürs Shopping-Wochenende gleich dorthin fliegen. Und habe den Vorteil, dass es nicht an jeder zweiten Ecke nach menschlichen Exkrementen richt.
Was die das Clubsterben angeht: Ich kenne die Zahl, das die Szene knapp 40% weniger Besucher als vor Covid hat. Da bricht echt dauerhaft was weg. Aber das liegt natürlich nicht nur an der Flughafenproblematik. Was Kunst angeht: Berlin hatte mal mehr Gallerien als New York - ca 550. Jetzt sind es noch 300. Im Kongress und Messegeschäft ist der Kollaps nicht ganz so gross - aber auch spürbar. Hier spielt die mangelnde und zu teure Anbindung Berlin eine Rolle - aber nicht die grösste. Trotzdem fällt unterm Strich auch dieser Treiber als Motor für den Flughafen aus. Kaum zu glauben, dass Berlin mal mit Wien die wichtigste Kongressstadt der Welt war. Lange ist es her.
Auch bei den Startups sieht es nicht besser aus. Berlin hatte mal London überholt (!!) was die Investments in Startups pro Jahr angeht. Heute liegt London auf Platz 7, Berlin auf Platz 20. (link). Ein Drama, meines Erachtens. Wenn man die Zahl der "Unicorns" vergleicht, ist der Abstand leider noch grösser geworden. Auch das hat massive Auswirkungen auf den Flughafen - vor allem auf das Potential bei margenstarken Business-Flügen.
Netto: Der Flughafen braucht dringend neue Impulse. Aus den Bereichen, die das Wachstum in der Vergangenheit getrieben haben, wird das nicht kommen. Berlin muss sich ein Stück grundlegend neu erfinden - dem muss man sich stellen. Aber Berlin hat sich in seiner Geschichte schon mehr als einmal neu erfunden. Deswegen bin ich da ganz optimistisch.