Brutalismus und Denkmalschutz
Hallo,
in Großbritannien und in Nordamerika gibt es derzeit eine starke Kontroverse, ob Gebäude des Brutalismus unter Denkmalschutz gestellt werden sollten oder nicht, und wenn ja, welche. In der Regel ist die Bevölkerung für "alles aus der Zeit so schnell abreißen wie nur möglich, da hässlich und abstoßend" und der Denkmalschutz für "besondere Bauten konservieren, weil es nur wenig Beispiele für diesen Stil und den Sinn dahinter gibt".
Geisel Library: http:// http://en.wikipedia.org/wiki/Geisel_Library
Boston City Hall: http:// http://en.wikipedia.org/wiki/Boston_City_Hall
Übrigens ist kein Baustil so umstritten wie der Brutalismus, der ja sehr in die Extreme geht und leider öfters Bauten hervorgerufen hat, die wirken wie George Orwell's 1984 mit trister Plattenbau-Ästhetik kombiniert - aber von Architekten prämiert wurde. Aber dafür auch viele Bauten, die so originell durchgeknallt waren, dass sie für berühmte Science-Fiction-Filme als Kulisse herhielten. Für meinen Geschmack sind manche Gebäude aus dem Stil total geil, aber die meisten echt unausstehlich. Was mir gefällt, ist dieses robuste Krasse, sich nicht anbiedernde, aber gemütlich ist es dafür ja nun wirklich nicht. Kommt also auch darauf an, wo es steht und welchem Zweck es dient.
Der Stil ist einfach so extrem, es wird am richtigen Ort gut gemacht und ist geil oder es wird am schlechten Ort gut oder schlecht gemacht und geht total schief und die Dimensionen passen nicht, und/oder der Brutalismus wirkt dadurch richtig übel oder beängstigend. Jeden Tag dort drin zu arbeiten in einem solchen Gebäude ist auch noch was anderes als das Ding einmal von außen zu sehen... teils positiver, teils negativer, je nachdem wie die Gestaltung des Innenraums ist. Außerdem kommt der Stil besser rüber in Wüstenstädten oder am Mittelmeer, als in Großbritannien, weil Beton bei Nässe und Kälte schlecht altert und dann schäbig aussieht. Und weil Beton, selbst frisch, bei blauem Himmel besser aussieht als bei grauem Himmel.
Wie sieht es in der Hinsicht mit deutschen Gebäuden aus dem Brutalismus-Stil aus? Hat jemand da neue Informationen hinsichtlich Denkmalschutz/Abreißwut? Gibt es da eine Debatte in eurer Stadt?
Die Kontroverse in Großbritannien/Nordamerika entstand u. a. um folgende Gebäude:
Die Robin Hood Gardens in London (sozialer Wohnungsbau, wird demnächst abgerissen, kam trotz vielem Hin und Her nicht unter Denkmalschutz - ziemlich verlottert mittlerweile)
http://en.wikipedia.org/wiki/File:Smithsons_photo_Robin_hood_gardens_London_UK_2005-07-21.jpg
Trellick Tower (wurde unter Denkmalschutz gestellt und hat Kultstatus bekommen bei der Hip-Szene):
http://upload.wikimedia.org/wi…ns/1/1c/Trellicktower.jpg
Hier ein extremes Negativ-Beispiel: Ich hab vor einigen Jahren auch das Government Service Center in Boston live vor Ort von außen gesehen, ein Krankenhaus-Gebäude, und ich muss sagen, sieht zwar total krank aber auch sehr interessant aus, ein Mittelding aus einer Tim-Burton-Filmkulisse, Darth Vaders Kampfstern, einem 2. Weltkriegs-Bunker, einem ordinären Parkhaus und Neuschwanstein. Schwer vorzustellen, aber so kam das rüber. Hat schon was Kultiges, würde ich niemals abreißen lassen (in meiner Stadt gibt es zwar auch einige Brutalismus-Bauten, aber nix derart Interessantes). Trotzdem, ob ich mich dort gerne wegen Krebs oder Blinddarm operieren lassen würde? Hmm... Und zu was umnutzen, Geisterbahn?
Siehe Fotos hier: http://mw.smugmug.com/gallery/2633574_KEY5S#139096888_UDdP5
Aber das Form follows Function Konzept ging hier gründlich schief. Die Psychiatrie-Abteilung hat in so einem abgefahrenen Gebäude nix verloren, das ist zu kontraproduktiv weil zu verwirrend und un-heimelig für die Patienten, generell der abgefahrene Stil Brutalismus ist eine Zumutung für Psychiatrie-Patienten, für die ein traditonellerer, konservativerer Architekturstil/Grundriss mehr Sicherheit und Stabilität schaffen würde weils vertraut wäre inmitten ihrer Halluzinationen... Und die Bostoner haben die Abteilung meines Wissens immer noch nicht aus diesem Gebäude ausgelagert
Die Patienten scheinen sich da oft zu verirren wegen des wirren Grundrisses in Kombination mit ihrem akuten psychotischen Zustand, Psychose-Leute hangeln sich außerdem in krassen Phasen gerne an Wänden entlang, um sich etwas Stabilität im Wahn zu verschaffen, aber die Betonwände sind innen so super-rauh "brutalistisch" bearbeitet zwecks interessanterer Ästhetik, dass sich die Patienten die Fingerknöchel daran blutig aufreißen.
Schlimmer noch: es scheint ja auch echt ein paar Selbstmorde wegen unnötiger Balustraden auf großer Höhe und entsprechender Gänge innerhalb des Gebäudes gegeben zu haben, die Leute haben sich da einfach runtergeschmissen (kann das nicht architektonisch sauber ausdrücken als Laie, sorry).
Und noch übler, es hat einen Ritualselbstmord in der Kapelle des Krankenhauses gegeben, die alleine durch ihre krasse Gestaltung für einen Laien so aussah, als sei sie für Menschenopfer bestimmt gewesen und für nix anderes. So dass alleine schon die Gestaltung durch diese Assoziationen schon einen armen Geisteskranken dazu verleitet haben soll, sich selbst zu opfern mit tödlichem Ausgang (so die Meinung des Psychiaters, hab mir die Kapelle auf Zeichnungen und Fotos angesehen, und ja, das Ding ist genial, aber sieht so krank aus dass ein Ritualmord besser dazu passt passt als Assoziation als ein normaler Gottesdienst mit Hostie und Wein, meiner Meinung nach). All das nur wenige Monate nach Eröffnung der Klinik. Seitdem ist die Kapelle geschlossen, mittlerweile seit 20 Jahren oder mehr, aus Sicherheitsgründen.
Es gibt auch einen Haufen anderer Probleme mit den Patienten, die durch die wirre düstere, irgendwie surrealistische Architektur auch im Inneren provoziert und verstärkt sein soll, wenn auch nicht verursacht, z. B. die zahlreichen Hinweise auf Gestalten und Figuren im Bau wie der "Froschkopf" am Haupteingang (siehe Bild), die aber nicht klar genug gezeigt werden, dass der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung verpufft...
Für Leute mit Wahnvorstellungen oder Verfolgungswahn nicht gerade der Knüller, denn ein solches Gebäude provoziert Halluzinationen wie sonstwas statt zu stabilisieren, und man kann auch als teils geheilter Betroffener schwer abschätzen, wieweit diese Wahrnehmungen normal sind und von Otto-Normal-Bürgern geteilt werden, und inwieweit sie durch den eigenen Wahn entstehen... als Betroffener in einer völlig akuten Phase hauen diese Eindrücke hingegen einfach durch und bringen mehr Stress und Wahnsinn ins Leben rein als man eh schon hat. Daher sollte eine Architektur ja auf solche Anspielungen verzichten in Psychiatrien statt sie gezielt einzubauen.
Hier ist die Katastrophe im Detail geschildert, aus Sicht eines Psychiaters, der dort arbeiten musste (auf englisch): http://www.metropolismag.com/html/content_1099/oc99aom.htm. Bei der Psychiatrie-Abteilung des Bostoner Government Service Centers wäre eine Umnutzung zu völlig egal was superwichtig, und die Psychiatrie-Abteilung schnellstmöglich auslagern, meinetwegen in einen öden aber funktionalen Betonklotz. Die armen Patienten!
Und eine gute Studie, wie man eine Psychiatrie NICHT gestalten sollte. Meines Erachtens ist der Bau alleine aufgrund dessen misslungen, dass er die stablisierende Funktion eines Psychiatrie-Gebäudes nicht erfüllt, sondern da kontraproduktiv wirkt (die Abteilung war ja von vornherein mit eingeplant und bewusst so gestaltet, um "ehrlich" nach außen zu zeigen, was nach Meinung des Architekten der Wahnsinn bedeutet...) Also das Form-Follows-Function Prinzip ging in diesem konkreten Fall total schief, egal wieviel Modernismus (Hier: Brutalismus) dabei war und ja eigentlich darauf bepicht sein sollte.
Hätte ich eine Tante mit psychotischen Anfällen und nur die Wahl, ob ich sie dann in diesem Bostoner Krankenhaus oder gar nicht behandeln lasse - ich würde sie lieber bei mir zuhause aufnehmen und auf Besserung hoffen/beten. Da sind die Chancen auf Gesundung größer.
Wobei dieser Bau nicht typisch ist für den Brutalismus, sondern eher atypisch, er war einfach nur ein punktuelles Beispiele für eine super-üble Fehlplanung für eine psychiatrische Abteilung. Hätte mit jedem anderen Stil auch so passieren können mit genausoviel Geldmasse und einem ambitionierten Architekten, der sich die Bedürfnisse und Prioritäten der Benutzer nicht genau anguckt, bevor er ein Gebäude plant.
Also, Architekten, die ihr hier mitlest: bitte nehmt aus diesem Beispiel mit, worauf ein Architekt achten soll, wenn er ein Psychiatrie-Gebäude errichtet, damit die Insassen sich wohlfühlen. Der zweifelslos geniale Architekt dieses Gebäudes hat das alles leider nicht berücksichtigt. Ich finde sein Gebäude als Skulptur total klasse, aber es passt echt nicht zur Psychiatrie-Abteilung und ist daher eine totale Fehlplanung.
http://upload.wikimedia.org/wi…_%28Boston%29_in_2008.jpg
Also, was würdet ihr machen, wenn ihr so ein Gebäude in der Stadt hättet? Was wäre sinnvoll eurer Meinung nach? Abreißen, umnutzen (was die Psychiatrie-Abteilung angeht), oder was?