Das "Wunder von Neukölln" - Bezirk im Aufwind
Neukölln hat in der Vergangenheit äußerst selten positiv auf sich aufmerksam machen können. Berühmt-berüchtigt ist der Stadtteil bundesweit ja vor allem für Rekordarbeitslosigkeit und Rütlischule sowie Parallelgesellschaften und arabische Familienclans (siehe Netflix-Serie 4 Blocks).
Inzwischen hat sich aber besonders in Nordneukölln doch einiges getan und es scheint so eine Art Wendepunkt erreicht.
Am auffälligsten und zugleich wichtigsten dürfte wohl das Bauprojekt Estrel-Tower sein, dass man inzwischen aus vielen Ecken der Stadt schon von weitem erblickt.
Wenn man sich die offizielle Präsentation des Projektes auf der Webseite und auch die letzten Berichte etwas ansieht, ist hier eine durchaus ambitionierter Versuch der Höherpositionierung sowie Ergänzung/Diversifizierung der bisherigen Geschäftsfelder (Hotel, Kongresse, Events) zu erkennen. Neben gut 520 klassischen Hotelzimmern* werden in insgesamt 1.100 Räumen auch jeweils eine Reihe Serviced Apartments sowie Büros und Coworking-Spaces aber auch exklusive Tagungs- und Eventflächen sowie Spa, Fitness und sogar Gastronomie (Restaurant und Bar) mit Dachterrasse ganz oben im Turm beworben. Das Motto lautet selbstbewusst: "Der Höhepunkt Berlins" - und tatsächlich macht nun ausgerechnet Neukölln die Hauptstadt zur dritten Wolkenkratzer-Stadt Deutschlands nach Frankfurt (obviously) und Bonn (immerhin ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung gewissermaßen ein Treppenwitz der Geschichte).
*Insgesamt liegt man dann übrigens bei weit über 1.600 Hotel-Zimmern und somit Rang 4 in Europa - nach drei Russischen Riesenhotels. Vor den Umplanungen sollten ursprünglich sogar über 700 neue Hotelzimmer entstehen, womit man gar in den Top 3 gelegen hätte.
Im direkten Kontext mit dem Estrel sind auch die Projekte von Klingsöhr (Hohe 9, Shed) und Trockland (DOXS NKLN)am Neuköllner Schiffahrtskanal zu sehen. Kürzlich bin ich im Rahmen einer kleinen Recherche auf einen interessanten Podcast der beiden Projektentwickler gestoßen, in welchem sie die erhoffte Entwicklung etwas näher einordnen:
- Insgesamt entwickeln beide zusammen gut 150.000 m² Nutzfläche und investieren ca. 1,5 Milliarden in ihre Areale!
- Trockland-Mitgründer und CEO Nathaniel beschreibt übrigens u.a. wie er durch entsprechende Gegenleistungen an die Gemeinschaft inkl. bezahlbarer Mieten ca. 50% mehr Nutzflächen als ursprünglich veranschlagt heraus holen konnte.
- Beide betonen übrigens, dass die Zusammenarbeit mit Politik, Wirtschaftsförderung in Neukölln herausragend klappt - gerade auch im Kontrast zu anderen Berliner Bezirken. Hier zögen alle an einem Strang und am Ende würden so auch alle Seiten gewinnen.
- Daneben sei auch unglaublich wichtig, was Streletzki hier über Jahrzehnte an Vorleistungen und auch Überzeugungsarbeit geleistet habe. Das Estrel sei und bleibe daher federführend bei der gesamten Entwicklung.
- Unter anderem die Infrastruktur sei absolut herausragend: Direkter Anleger am Schifffahrtskanal, Güterbahnanschluss, S-Bahn-Ring, demnächst Autobahnanschluss, künftig auch noch Anschluss an eine Fahrrad-Schnelltrasse. Mit Taxi und ÖPNS sei man künftig in kürzester Zeit am Flughafen oder auch am Hauptbahnhof.
- Die Grundstückspreise und auch die Mieten seien etwa im Vergleich zum Ostkreuz noch sehr moderat, zögen nun aber etwas an.
- Zusätzlich sei man wie gesagt auch teils auf den Bezirk zugegangen, um reizvolle Mischnutzungen zu ermöglichen:
Klingsöhr hat neben der ersten Hochschule Neuköllns zugleich auch eine Menge an spannendem Gewerbe anlocken können. Hierzu zählen u.a. eine Berliner Zentrale von Amnesty International aber auch der Umzug der Deutschlandzentrale von Foundever aus Düsseldorf nach Neukölln, die Data Group, We.CONECT sowie das Start-Up (und inzwischen Unicorn) 1,5 Grad.
Trockland baut neben Gewerbe/Büros und innovativer Produktion u.a. auf Gastronomie, Wellness, Galerien aber auch ein Hostel und Kitaflächen.
- Insgesamt würden sich eine Menge Synergien bei den verschiedenen Einrichtungen und Zielgruppen ergeben, wobei auch explizit viele junge Menschen und somit viel Leben in das Areal geholt werde. Trotz vieler Büros soll das Leben hier nicht schlagartig um 18 Uhr enden.
- Neben der Nutzung sei auch die Gestaltung der Flächen eine bewusste Entscheidung und teils Investition gewesen. Beide betonen bewusst das industrielle Erbe und Zugleich die Nähe zum Wasser und der alten (Güter-)Hafeninfrastruktur. Etwa die alten Ladekräne stehen zwar nicht unter Denkmalschutz aber alle wollten sie unbedingt erhalten und integrieren. Und auch die öffentliche Uferpromenade mit dem großen Stadtplatz inkl. Sitztreppen soll eine neue Aufenthaltsqualität ermöglichen.
Spannend finde ich in dem Zusammenhang übrigens, dass man beim Estrel laut oben verlinktem Artikel ursprünglich mal einen reinen Hotelturm mit diversen flankierenden "Flachbauten" geplant hatte. Zum Glück ist es trotz Wegfall von Zimmern (s.o.) dann beim Turm (zzgl. Sockel) geblieben, wobei die Funktionen der geplanten Flachbauten mit integriert wurden, sodass hier ebenfalls Freiflächen für einen kleinen Uferpark gewonnen wurden.
Ein entsprechend betitelter Artikel zum KALLE NEUKÖLLN hat mich dann übrigens zur Überschrift animiert. Was ist nun so ein "Wunder" an dem Projekt? Nun ja: Neukölln zeigt exemplarisch, was man aus einem runter gerockten (zuletzt Ramsch-)Warenhaus noch so machen kann. Für 200 Mio wurde alles komplett umgebaut. Inzwischen sind hier schon 1.000 Büroarbeitsplätze entstanden und es hat sich u.a. die Berliner Code University angesiedelt. Daneben hat ein legendärer Britischer Plattenladen seine Kontinentaleuropäische Dependance bezogen. Daneben gibt es einen innovativen Food Market, wo Spitzenköche an Ständen ihre Gerichte anbieten. Ebenso große Konferenzräume, Sportstudios und eine Konzertlocation. Auf dem Dach gibt es einen schallgeschützten Wintergarten mit mehreren Restaurants, eine große Außenterrasse und auch ein großes Schwimmbecken.
Wer wie ich noch das "Schnäppchenparadies" mit dem hässlichen alten Parkhaus kannte, wird sich wohl verwundert die Augen reiben.
Und vielleicht fühlt man sich auch an das Karstadt-Projekt am Herrmannplatz erinnert. Das scheiterte bekanntlich erst an der Hinhaltetaktik des primär zuständigen Bezirks (Kreuzberg) und dann endgültig an der Pleite des Investors. Irgendwie schon symbolisch für das was Klingsöhr und Nathaniel über Neukölln und andere Bezirke schreiben. Dort blockiert, hier passiert's und wird von der Politik stolz mit gefeiert.
Und zu guter letzt gibt es nun auch endlich Informationen zum Marlboro-Gelände (Quelle Morgenpost Print), also einem bald komplett abgewickelten Fabrikgelände, das nun unter dem symbolträchtigen Titel NLND (offenbar ein Wortspiel aus Neukölln und Neuland) neu entsteht bzw aufersteht:
Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Marlboro komplett raus geht und die Flächen abstößt. Weit gefehlt. Es bleibt nicht nur der Marlboro-Cowboy erhalten, sondern auch der Tabakkonzern. Die Amis wollen hier im Zuge der Konzern-Transformation hin zu Tabakerhitzer & Co neue Produkte entwickeln und auch als Prototypen produzieren.
In 30 Gebäuden plus Gelände sollen auf insgesamt 150.000 m² Startups und Mittelständler sowie Industriepartner angesiedelt und mit einer Prototypenhalle auch wieder eine Art Produktion hochgefahren werden (und Produktion soll auch den Großteil der Flächen einnehmen, gefolgt von Lagern und Büros). Noch in diesem Jahr soll ein großes Bürogebäude neu eröffnet werden. In der höchsten Halle (18m hoch) will ein Filmstudio einziehen und auch ein Spieleentwickler will sich einmieten.
Daneben verhandelt man offenbar auch hier mit (einem) Universitätspartner(n) und plant zudem ein Konferenzzentrum für bis zu 10.000 Menschen!
Für die Öffentlichkeit wird u.a. mitten auf dem Gelände ein großer Marktplatz entstehen, daneben werden auch die Kantinen und ein Café öffentlich nutzbar sein. Wechselnde Märkte und auch Events wie Public Viewing sollen die Menschen anlocken.
Fazit: Mal wieder ist ein Trend zuerst ein Stück weit an mir vorbei gezogen, nur damit er nun so voll einschlägt. Insgesamt werden hier Milliarden investiert und es werden völlig neue Unternehmen aber auch Institutionen und vielfältige öffentliche Angebote angesiedelt. Man merkt dabei mE, dass sich die (Misch-)Nutzungen ähneln. Neukölln wird noch mehr denn je zu einem führenden Tagungsstandort mit recht vielfältigen Angeboten. Aber nach der von Großkonzernen geförderten Free Coding School "Berlin 42" siedeln sich auch immer mehr Bildungsinstitutionen an, gefolgt von Startups und weiteren Unternehmen verschiedener Branchen (mit Fokus auf Tech und Kultur). Aus dem Schulischen Kontext weiß ich zudem, dass inzwischen auch Initiativen wie Maker Labs und Amazon Future Engineer gezielt in Neukölln aktiv geworden sind.
Auch wenn es mE letztlich dennoch kein Wunder ist, sondern einfach gute Standortpolitik: Wenn Neukölln in den kommenden Jahren in den Medien auftaucht, dann vielleicht zunehmend in einem positiveren Kontext als gewohnt. Ebenso wie sich der Estrel Tower "plötzlich" in der Skyline der Stadt aufgetürmt hat. Und meine Hoffnung ist, dass diese Dynamik zum Vorbild wird und schon bald in der ganzen Stadt Schule macht.