Ich denke dass es leider tatsächlich eine Diskrepanz zwischen dem propagierten Ziel einer Verkehrswende und ihrer Umsetzung gibt, und es scheint mir leider auch so dass eine wirklich kohärente Strategie zur Umsetzung einer Verkehrswende in Berlin eher nicht vorhanden ist.
So eine Strategie müßte immer restriktive Maßnahmen, die den mIV einschränken mit der Ausweitung entsprechender Alternativen flankieren.
Die beiden effektivsten Tools zur Einschränkung des mIV sind in Berlin bislang noch gar nicht zum Einsatz gekommen, nämlich eine Citymaut zu Bepreisung der Straßenbenutzung für mIV in der Innenstadt (und Berlins Stadtmorphologie bietet sich mit ihrer Unterscheidung in Innen- und Außenstadt anhand des S-Bahnrings dafür sehr gut an), sowie eine Verknappung und vor allem Bepreisung der Nutzung des öffentlichen Raums als Parkraum für private Pkw. Damit meine ich eben nicht die 20 € für 2 Jahre Bearbeitungsgebühr wie sie z. Zt. im Rahmen der Parkraumbewirtschaftung anfallen, sondern eher 100-200 € pro Stellplatz im Monat, wie es in Städten wie Stockholm, Amsterdam oder Zürich bereits praktiziert wird.
Das Alles muß natürlich mit der Ausweitung alternativer Mobilität einher gehen, und ich denke dass es dabei nicht eine Frage des entweder oder, sondern des sowohl als auch ist. Das bedeutet:
1. Den zügigen und konsequenten Ausbau einer Infrastruktur für sicheres und angstfreies Radfahren, wie er seit 18 Monaten laut Mobilitätsgesetz ohnehin festgelegt ist. Der schnelle Ausbau einer solchen Radinfrastruktur (auch durch Umverteilung des Straßenraums zu Ungunsten des mIV) ist wahrscheinlich der schnellste und preiswerteste Weg, die Kapazität des Straßennetzes im Hinblick auf Personenbeförderungskapazität auszuweiten. Und ja, wenn eine solche Infrastruktur vorhanden ist wird sie auch im Winter massenhaft in Anspruch genommen (Kopenhagen und die Niederlande beweisen es; außerdem würde es manchen Zeitgenossen ohnehin gut tun aus ihrer weinerlich verteidigten Komfortzone herauszukommen und sich an den Satz zu erinnern: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unangemessene Kleidung;).
2. Als mittelfristige Maßnahme der Ersatz hochbelasteter Buslinien durch Straßenbahnstrecken zur Ausweitung der Kapazität und zur Steigerung des Beförderungskomforts (Umsetzung ca. 5-7 Jahre).
Ebenso kann die Beschaffung neuer U-Bahnzüge sowie die Installation neuer Sicherungs- und Betriebstechnik die Kapazität vorhandener U-Bahnlinien massiv ausweiten (moderne Metros fahren häufig Rush-Hour-Takte von 2 Minuten, die BVG hat zur Zeit Mühe überhaupt einen stabilen 5-Minutentakt anzubieten; letzten Endes Spätfolgen unterlassener Investitionen in der Wowereit/Sarrazin/Nussbaum-Ära). Die Umsetzung dürfte auch bei diesem Projekt mit 5-7 Jahren anzusetzen sein.
3. Als langfristige Investitionsmaßnahmen: Der Ausbau des gesamten U- und S-Bahnnetzes. Dabei sollte durchaus der sogenannte 200-Kilometer-Plan aus den 1970er Jahren die Zielmarke sein, der Umfang dieser neuen Trassen ist bis heute weitgehend im gültigen Flächennutzungsplan Berlins abgebildet. Link: https://de.wikipedia.org/wiki/…nnetz_Berlin_FNP_2019.png
Der Zeithorizont dieser Ausbaumaßnahmen ist sicher selbst bei entschiedener politischer Unterstützung eher bei 10-20 Jahren anzusetzen, ich halte einen solchen massiven Ausbau der beiden Schnellbahnsysteme aber für notwendig wenn eine echte Verkehrswende gelingen soll. Ich halte auch die gegenwärtig von der Verkehrssenatorin praktizierte Zurückhaltung beim Ausbau der U-Bahn für einen Fehler. Es gibt nicht die Alternative zwischen U-Bahnausbau und dem Ausbau der Straßenbahn, sondern beides muß geschehen und sich gegenseitig ergänzen. Beispiele für ein sinnvolles Zusammenspiel von U-Bahn und Strassenbahn sind Prag oder in eingeschränktem Rahmen auch Wien.
Die Verkehrswende gelingt nur in einem abgestimmten Zusammenwirken von restriktiven Maßnahmen für den mIV, und einer nach Kurz-, Mittel- und Langfristigkeit getakteten Strategie zur Ausweitung alternativer, nachhaltiger Mobilität.
Dies wird umfangreiche Investitionen erfordern, und auch den politischen Mut, Besitzstände und vermeintliche Rechte auf individuelle Bequemlichkeit in Frage zu stellen und anzugreifen.