Was ich in meinem vorherigen Post eigentlich eher zum Ausdruck bringen wollte, ist die Tatsache, daß es für mich immer etwas unfair klingt, wenn man der großen architekturmäßig nicht versierten Masse jegliche Fähigkeit zum guten Geschmack absprechen möchte. Deshalb interessiert es mich denn auch wieso diese Masse NewUrbans Meinung nach denn nun genau annimmt, daß besonders viel Ornamentik gleichbedeutend mit schön ist.
...und wieso dies auch die Meinung der Proletariermasse sein muss.
Die Entwicklung von der dorischen zur korinthischen Säule wurde schließlich auch nicht von dem Geschmack der Normalbevölkerung getragen, sondern von Künstlern und den Entscheidungsträgern der Oberschicht, die Zeit und Muße hatten sich mit den schönen Dingen des Lebens auseinanderzusetzen.
Sicherlich: die Entwicklung hin zu mehr Filigranität und mehr Schmuck am Beispiel der Antike geht mit zunehmenden Fertigkeiten in der Steinbearbeitung einher. Trotzdem kann man kaum verkennen, das hier NICHT ausschließlich der Gedanke: es ist machbar geworden, lasst uns korinthische Kapitelle schnitzen dahinterstand, sondern auch gerade der Wunsch des Menschen zu mehr Schmuck. Schmuck als Element das positiv auf die menschliche Wahrnehmung wirkt lässt sich ja nicht nur in der Architektur zeigen.
Es stellt sich für mich daher mehr die Frage: Gibt es eine kritische Masse/Grenze ab der zuviel Schmuck schadet - und, angewandt auf unsere Fragestellung, wurde diese Grenze überschritten?
Ob die Proportionen des Berliner Doms stimmig sind oder nicht entscheiden Kriterien an denen man sich orientiert bei der Erstellung von Gebäuden, Kunstwerken, Gegenständen die erstaunlich relativ allgemein akzeptiert werden (Gebrochen werden diese Kriterien in der zeitgenössischen Architektur allerdings zuhauf). Aber woher nimmt man Kriterien für gefällige Proportionen? Wieso 90-60-90? Es gibt Männer die sich an mehr an Rundungen erfreuen als die breite Masse. Die ist es letzlich die allgemeine Gefälligkeitskriterien festlegt.
Zeitgenössischer Geschmack ist abhängig von unseren Voraussetzungen. Der Mensch strebt nach Schönheit. Kapitelle und Büsten konnten Gebäuden gemäß dem Empfinden der Masse Schönheit verleihen. Jahrtausendelang strebte man doch immer nach Schönheit, sofern es die Lebenssituation zuließ nach dem Notwendigsten noch Resourcen zur Verfügung zu haben. Um die vorletzte Jahrhunderwende wurde wohl der geschichtliche Punkt in Bezug auf Architektur erreicht Städte nach den vorherrschenden Schönheitskriterien so zu gestalten wie man es sich wünschte. Es meint damit die entscheidende Elite, allerdings dessen Geschmacksrichtung sich wohl nicht zu sehr von der der proletarischen Elite unterschied. Dieser Unterschied im Zeitgeschmack zwischen der (nicht mehr entscheidungsbefugten) Elite von Künstlern und der breiten (nicht mehr proletarischen) Masse scheint sich enorm geweitet zu haben seit dem von mir angenommenen historischen Zeitpunkt an dem eine Kehrtwende erfolgt ist: Ausschmückung war nicht mehr vorrangig erstrebenswert weil erreichbar geworden. Schönheit kann man auch durch Schlichtheit erreichen. Wird Schmuck deshalb in seiner Wirkung verkehrt? Natürlich nicht. Die kritische Grenze, wenn es sie gibt, ist wohl gesunken, in Bezug auf den breiten Geschmack. Die Schere zwischen Puristen und Ausschmückern hat sich geweitet. Aber die Frage bleibt: Wo setzt man diese Grenze an? Das mach wohl jeder persönlich für sich. Wer Bock drauf hat kann auch eine Untersuchungsreihe mit Probanden aus ganz Deutschland anstellen und ihnen Fotos von Kunstwerken oder Gebäuden unter die Nase halten um so ein Ästhetikdurchschnittsbewusstsein unserer Zeit und Kultur zu erhalten. Meine Annahme: Der Berliner Dom würde dabei sehr gut abschneiden.
@ Wichtiges Bauwerk, das der Masse zu geschmückt wäre:
Hundertwasser. Anhänger finden sich wahrscheinlich zu gleichen Teilen in der Künstlerelite als auch in der Proletariermasse (wenn ich das Wort auch jetzt schon 10 Mal verwendet habe - ich halte es immer noch für zynisch). Nur ist die Ablehnung hier sicher größer als das Wohlwollen.