Wie Stuttgart sein Gesicht verlor
Das Ergebnis des Schlossplatz-Wettbewerbs ist die Fortsetzung der Nachkriegssünden mit anderen Mitteln
Von Dankwart Guratzsch
Nun also scheint es unumkehrbar. Stuttgarts Schlossplatz wird nie wieder das, was er einmal war. Das klaffende Loch an seiner Westseite, Hinterlassenschaft einer geschichtliche und ästhetische Werte missachtenden Verkehrsplanung der fünfziger Jahre, bleibt bestehen. Das ist das Ergebnis des dreistufigen Wettbewerbs "Kleiner Schlossplatz", mit dem sich Stuttgarts Stadtverwaltung schwer getan hat und der die Jury zuletzt in eine Zerreißprobe trieb, die in schroffer Konfrontation endete: 16 Stimmen für den Sieger-Entwurf, elf dagegen.
Den Triumph davongetragen hat ein Büro aus Berlin: Hascher + Jehle Architekten und Ingenieure. Es schlägt für die Städtische Galerie einen frei stehenden Würfel mit gläserner Ummantelung vor, der wie bisher über Freitreppen vom Fußgängerstrom umspült werden soll. Oberhalb wird ein neuer "Kleiner Schlossplatz" freigehalten, den im Norden ein ebenfalls in Glas gepackter lang gestreckter Riegel flankiert. Er ist über ein modisches "Galeria"-Dach auf ganzer Länge mit der Hauptpost verbunden. Diese neue "Fürstenpassage", zu verstehen als eine Art "Schleuse" parallel zur Hauptströmung über die Freitreppen, ist mit 9820 Quadratmetern Handelsfläche der "Geldesel", sprich: die Finanzierungsgrundlage für das 100-Millionen-Projekt, das dadurch zu 50 Prozent abgedeckt ist.
Entscheidend für die Bewertung erweist sich weniger die Architektur als vielmehr der Beitrag zum Städtebau. Für Stuttgart ist der Kleine Schlossplatz, dessen Name schon allein einen Zynismus bedeutet, zu einem Trauma geworden: Pavillons aus Waschbeton türmen sich über Plattformen, monströsen Auf- und Abgängen, Brückenresten und Treppenabsätzen zu einem chaotischen Geschiebe, vor dessen Unansehnlichkeit selbst Efeu und Wilder Wein zurückzuschrecken scheinen: Alle Berankungsversuche der Nachkriegszeit sind gescheitert.
Diese städtische Abseite, für die es nur in ganz wenigen deutschen Gemeinwesen heute noch etwas Vergleichbares gibt, befindet sich nicht etwa in einem Hinterhof, sondern markiert die Westseite des von dem Architekten und Haupt der "Stuttgarter Schule" Paul Bonatz einst so genannten "edelsten Bezirkes der Stadt": des Schlossplatzes. Es ist ein Un-Ort, der das Bild der Stadt beschädigt, der den benachbarten säulengeschmückten "Königsbau" ebenso deklassiert wie sein Gegenüber, das zumindest äußerlich in alter Pracht wieder erstandene Schloss.
Vor allem aber ist durch diesen - wie es heute unumwunden heißt - "Schandfleck" die ganze Logik der Platzanlage zerrissen: Das Betonmassiv, das aussieht, als seien hier Reste früherer Gebäude zum Abtransport zusammengekehrt worden, füllt das Loch in der abschließenden Raumkante des Platzes nur mit einer Art Trümmerberg, schlecht kaschiert durch eine Freitreppe, die sich seit sechs Jahren zum Treff von Jugendlichen und von Skateboard-Fahrern entwickelt hat. Das Preisgericht erkannte darin eine schützenswerte Nutzungsform, die eine Reparatur des Platzes verbiete.
Der jetzt prämierte Entwurf ändert an der Grundstruktur des im Westen aufgerissenen Platzes folglich nur wenig. Er stellt mit dem aus der alten Fluchtlinie zurückgesetzten Galeriebau lediglich einen Fels in die Brandung. Das zeichnet ihn zwar gegenüber dem zweitplazierten Entwurf von Hanno Chef (Berlin) aus, der die Treppe noch breiter aufgerissen und die Passage zu der dahinter liegenden Stadtautobahn (einst Rote Straße, heute Theodor-Heuss-Straße) noch zugiger gestaltet hat, führt aber vom einprägsamen Bild des einstigen Schlossplatzes weg.
Doch der Gedanke der "Flutung" hatte das Preisrichter-Kollegium schon bei der ersten Stufe des Wettbewerbs im Februar derart fasziniert, dass es alle Alternativen unter den 341 eingereichten Arbeiten ausgesondert hatte. Selbst dem dritten und letzten in die Endrunde vorgestoßenen Entwurf (Johann Überlackner, Berlin), dem originellsten von allen, haftet dieser Gedanke noch an. Er schließt zwar als einziger die Raumkanten, bildet dafür aber die "Flutwelle" zwischen den parallelen Straßenzügen in der Gebäudeform ab - mit fragwürdigen Folgen für Funktionalität und Innenarchitektur.
So hat zwar der beste der drei Entwürfe gesiegt, im Hinblick auf den jahrzehntelangen "Reifungsprozess" dieser Entscheidung ist das Resultat jedoch enttäuschend. Dabei hätte die Chance bestanden, eine Planungssünde ersten Ranges wieder gutzumachen. Denn der Kleine Schlossplatz ist ja keine Hinterlassenschaft des Krieges, sondern das Ergebnis eines mutwilligen Zerstörungsaktes, gegen den Bonatz und große Teile der Stuttgarter Öffentlichkeit in den fünfziger Jahren vergeblich Sturm gelaufen waren.
An der Stelle, wo jetzt die Betonhalde starrt, stand noch zehn Jahre nach dem Krieg das Kronprinzenpalais - ein neoklassizistischer Bau von Ludwig Gaab aus dem Jahr 1850. In der Ära von Arnulf Klett, dem von der "Modernisierung" der zerbombten Stadt besessenen Oberbürgermeister, hatte die gut erhaltene Ruine des Gebäudes keine Chance. Als sie niedergelegt und durch die 5850 Quadratmeter große, 100 Millionen Mark teure Betonplatte ersetzt war, jubilierte das Stadtoberhaupt: "Ein imponierendes Ergebnis."
An der Seite Kletts waren es damals vor allem die Verkehrsplaner gewesen, die den Abbruch des Palais gefordert hatten. Es stand einer tragfähigen Nord-Süd-Verbindung im Wege. Heute sind die Autos unter der Erde. Einer Reparatur des Platzes - auch mit "moderner" Architektur - hätte somit nichts mehr im Wege gestanden. "Wenn man das Kronprinzenpalais abreißt", so hatte Bonatz 1951 gewarnt, "verliert die Westseite des Schlossplatzes die Hälfte ihres Gesichts." Sie wird es auch jetzt nicht wiederfinden.
Mit der Idee eines gläsernen Würfels gewann das Berliner Büro Hascher + Jehle den Stuttgarter Schlossplatz-Wettbewerb.
Seit Jahrzehnten müht sich Stuttgart mit der Neugestaltung des westlichen Schlossplatzes. Die Ergebnisse eines Gutachtens aus dem Jahre 1987, bei der sich der Entwurf des Architekten Cobb vom Büro Pei & Partner durchgesetzt hatte, wurden nicht realisiert. 1993 war interimsweise eine Freitreppe errichtet worden.
Das jetzt prämierte Projekt hat ein Volumen von 100 Millionen Mark, es umfasst eine Galerie von 12 000 und Handelsflächen auf 10 000 Quadratmetern. Das Büro Hascher + Jehle hat bisher unter anderem die Landesversicherungsanstalt in Schwaben, die Hauptverwaltung der Datenverarbeitungsgesellschaft in Hannover und das Klinikum Kröllwitz in Halle gebaut.
Der Kommentar des Stuttgarter Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster zum Wettbewerb: "Die Entwürfe zeigen, wie schwierig es ist, eine qualitätvolle Lösung zu erzielen."
Quelle: Die Welt