Ich würde Rekonstruktionen getrennt von Gründerzeit und Retrowelle betrachten. Bei Rekonstruktionen, wie sie heute debattiert werden, handelt es sich ja meist um Gebäude und Ensembles, die vor 1800 entstanden (also wie z.B. Frankfurt, Hildesheim, Dresden, Köln). Der Historismus der Gründerzeit, so sehr ich ihn liebe und so sehr man in dieser Zeit bestrebt war, keinen Bruch mit der historischen Bebauung herbeizuführen, griff ja schon massiv in historisch gewachsene Strukturen ein. Die Frankfurter Altstadt stand schon bei den Stadtplanern und Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer wieder zur Disposition. Im Altstadtkern blieb es aber lediglich beim Bau der Braubachstraße: anders als in Leipzig oder Hamburg, deren Zentren gründerzeitlich fast vollständig überformt wurden.
Also reine Rekonstruktionen würde ich mir lediglich in vom Krieg zerstörten Altstädten wünschen, vor allem dann, wenn sich die Möglichkeit ergibt, dass die eine oder andere Nachkriegsbausünde abgerissen wird. Also wie beim TR in Frankfurt.
Mit traditionellen Neubauten (wenn damit hier die Retrowelle gemeint ist) habe ich so meine Probleme, weil sie nicht selten pseudohistorisch und billig anmuten. Beispiel: Novotel in Leipzig.
Schon besser finde ich den traditionellen Neubau in der Universitätsstraße. Klassisch schlicht, aber ordentlich ausgeführt (Bild 2006 kurz nach Fertigstellung von mir geknipst).
Noch besser, und in meinen Augen völlig zu unrecht kritisiert, ist die Sanierung bzw. der Wiederaufbau von Webers Hof. Der einstige Messehof wurde im 19. Jhd. gründerzeitlich verformt, indem 2 Vollgeschosse draufgesetzt wurden und das Dach fast völlig verschwand. Der Bauherr ließ in den 1990er-Jahren nicht den gewachsenen Zustand mit den 2 Vollgeschossen wiederherstellen, sondern anhand von einer Skizze den Ursprungszustand von 1662, weil in seinen Augen die ursprüngliche Dachform den Übergang von der Renaissance zum Barock eindrucksvoll dokumentiert. Nützte ihm wenig, denn selbst nach der für mich überzeugenden Dachreko schallte es Ohrfeigen. Sogar Wolfgang Hocquéls ansonsten sehr eindrucksvoller Architekturführer "Leipzig - Architektur von der Romanik bis zur Gegenwart" spricht von einer fragwürdigen Rekonstruktion, bei der das gewachsene Zeugnis der städtebaulichen Entwicklung zerstört wurde.
Webers Hof nach dessen Sanierung und Wiedergewinnung des Ursprungsdach von 1662 (Bild von mir):