Ich will hier kein historisches Grundseminar abhalten und auch gar nicht auf unsinnige Aussagen wie "Deutschland war 40 Jahre lang militärisch besetzt" eingehen und hätte sich als Aussätziger in der Weltgemeinschaft (trotz NATO- und EWG-Mitgliedschaft) mehr als stil- und farblose Reparatur nicht leisten können. Das Gegenteil ist doch der Fall: Gerade Berlin bekam doch durch den Kalten Krieg in West und Ost einen Frontstadtcharakter, in dem man auch architektonisch die Überlegenheit des eigenen Systems demonstrieren wollte. Allein die Bauten der "Besatzungsmacht" USA wie die Kongresshalle, die als "Leuchtturm der Freiheit" galt (und z. B. im Film "Mein Mann, das Wirtschaftswunder" als Firmenzentrale diente) und nur zusammenstürzte, weil man der kühnen Statik des Architekten misstraut hatte, das Amerika-Haus oder auch die Amerika-Gedenkbibliothek, der Henry-Ford-Bau der FU oder das Studentendorf Schlachtensee belegen das doch.
Bauten der deutschen Nachkriegsmoderne wurden sehr wohl international beachtet, der deutsche Pavillon von Egon Eiermann und Sep Ruf auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 wurde international sehr gelobt und galt als Inbegriff der modernen, bescheidenen Bundesrepublik. Das Stadttheater Münster, 1952-56 erbaut von völlig unbekannten, jungen Architekten, wurde sogar von Rockefeller jr. besucht, um es als Vorbild für Theaterbauten in den USA zu nehmen. Der Fernsehturm in Stuttgart von 1955 war weltweit der erste dieser Art.
Gegen Ignoranz kann man nicht anschreiben, aber ich will eine Lanze für die Architektur dieser Zeit brechen: Anders als vieles an gesichtsloser, rücksichtsloser Massenarchitektur der späten 60er und 70er Jahre haben viele Bauten der Nachkriegsmoderne noch ein menschliches Maß, verkörpern Eleganz, Großzügigkeit und Modernität in einem. Sie waren auch viel vielfältiger, als man meint, auch Neoklassizismus und Heimatschutzstil gehören dazu. Typisch ist aber der "Nierentischstil": Organische Baukörper, elegant geschwungen, viel Glas, großzügige Treppenhäuser, Flugdächer, farbige Flächen in Pastelltönen, ausgesuchte Materialien.
Ich würde zwar auch lieber in einem bürgerlichen, top sanierten Gründerzeit-Altbau leben, ich finde Rothenburg ob der Tauber auch schöner als Bielefeld-Sennestadt. Ich hätte bei dem größten Teil der Nachkriegsmoderne auch lieber die Vorkriegsbebauung und finde schlimm, wie viel grundlos nach dem WK II abgerissen wurde. Die Bauten sind oft auch schlecht gealtert, besonders wenn Türen, Fenster oder Geschäftsschilder durch Kunststoff ausgetauscht wurden. Außerhalb von Brasilia oder Chandigarh zählen Bauten der Nachkriegsmoderne wohl nirgendwo zu den Hauptsehenswürdigkeiten, in Berlin dagegen schon: Auch mangels Alternative gibt es nur wenige Berlinansichten ohne Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Fernsehturm, Europa-Center, Kongresshalle oder Stalinallee - ein Blick auf Postkarten oder Reiseführer, gerade vor dem Mauerfall, zeigt das sehr schnell.
Aber die Gründerzeithäuser, die in den 1950er Jahren ungefähr so alt waren wie die Nachkriegsmoderne jetzt, galten als nicht nur als unmodern, kitschig und hässlich, man sah sie synonym für Elendsquartiere, in vielen Fällen dunkle, enge Räume mit zu wenig Licht, zu wenigen Toiletten, ohne Bäder. In "Meyers Hof" leben in einem Gründerzeithaus zeitweise rund 2100 Menschen, die sich nur wenige Gemeinschaftstoiletten teilen mussten. Sie galten in linken Kreisen sogar auch als Ausdruck einer Zeit, die in letzter Konsequenz in das Dritte Reich geführt hat. Dass ein Arbeiterviertel wie der Prenzlauer Berg mit solchen Häusern mal ein begehrtes, teures Wohnviertel werden könnte, war damals jenseits der Vorstellungskraft. Noch Anfang der 80er Jahre galt selbst der schönste Teil der Fasanenstraße (Villa Griesebach/Literaturhaus) als Beispiel für schlechte Architektur, die beinahe noch abgerissen worden wäre.
Die Menschen wollten Bäder, Zentralheizung, Balkone, Licht, Luft, Ruhe, Aussicht - aber nicht nur das: Die Nachkriegsmoderne war die Überwindung des Dritten Reiches, der Anschluss Deutschlands an internationale Standards, der Blick nach vorn sollte die Vergangenheit vergessen machen. Diese Architektur strahlt in ihren besten Momenten Optimismus und Fortschrittsglauben aus und fügt sich damit nahtlos in die damalige Formensprache ein, die man auch im Möbel- oder Autodesign findet. Diese Architektur war kein Notbehelf, sondern idealisierter Ausdruck einer gesellschaftlichen Sehnsucht. Das Design dieser Epoche - ob von Eames, Nelson, Noguchi, Bertoria, Jacobsen, Aalto, Le Corbusier, Girad, Rams oder Wagenfeld - dominiert seit fast 15 Jahren als "midcentury modern" die Wohnungsmagazine. Ich würde es sehr begrüßen, wenn man den Häusern, für die sie gemacht wurden, mehr Respekt entgegenbringt. Nicht nur als Ausdruck eines Zeitgeistes des Aufbruchs, sondern auch weil ich z. B. das "Schirmständerhaus", das Schuhhaus Stiller von 1955/56, in der Wilmersdorfer Straße für so viel schöner und eleganter halte als alle späteren Nachkriegsbauten in dieser Straße. Aber Arty Deco ist vermutlich der Ansicht, dass die Löcher im Vordach zeigen, dass man sich ein richtiges Dach weder materiell noch moralisch leisten konnte...