Berlin will sich ja seiner Geschichte nicht vergegenwärtigen (mit Ausnahme der letzten 50 Jahre) [...] Berlin wird neu gebaut - da stören 800 Jahre Geschichte nur.
Diese Kritik wäre 1950 oder 1970 richtig gewesen, schon Mitte der 80er stimmte sie nicht mehr. Das ganze Molkenmarkt-Projekt dreht sich doch darum, das Viertel wieder an den Stadtraum des 18. und 19. Jahrhunderts heranzuführen. Freilich darf die Stadtplanung dabei den Verkehr des 21. Jhdts nicht beeinträchtigen, was ein wenig der Quadratur des Kreises ähnelt. Außerdem ist die soziale Struktur von heute ganz anders als die vor 250 Jahren, weshalb es keine stolzen Bürger mehr gibt und kein zeitgenössisches Äquivalent der alten Kontorhäuser, sondern nur noch institutionelle Investoren, die ganze Häuserzeilen in Standard-Styropor-Optik bebauen. Das ist durchaus ein Kulturverlust, aber nicht dem bösen Wille der Senatsverwaltung geschuldet, sondern den ökonomischen Bedingungen.
Im Übrigen ist es irreführend, Konstantin, wenn man Alt-Berlin von der Gründung bis zum 2. Weltkrieg als mit sich identische, historische Stadt betrachtet, danach aber als etwas ganz anderes. Der Einschnitt durch den Krieg, die DDR-Hauptstadtplanung und die "autogerechten" Verkehrsschneisen ist frappant, aber auch die Altstadt von 1918 war eine andere als die von 1750 – wilhelminischen Großprojekten fiel barocke Bausubstanz hektarweise zum Opfer. Die barocke Stadt ihrerseits stand auf den Fundamenten der Häuser von 1450, welche wiederum die Bebauung von 1250 ersetzt hatten. In jeder europäischen Stadt finden sich ältere Siedlungsschichten, die durch neuere überbaut wurden – weil die alte Bebauung durch Brände oder Krieg zerstört wurde, weil sie als nicht mehr zeitgemäß galt oder weil sie einem großangelegten Stadtumbau weichen musste.
Nie hatte man Probleme, das Alte zu opfern, weil das Neue stets als überlegen galt. Hatten die Erbauer des Ermelerhauses 1720 Skrupel, beim Ausheben der Baugrube historische Mauerreste zu beseitigen? Nein. Verschwunden ist diese Sorglosigkeit erst mit dem Scheitern der Städtebau-Moderne: Diesmal hat sich das Neue als Irrweg entpuppt, also steigt die Wertschätzung des Alten. Allerdings in idealisierter Form: Was den Leuten vorschwebt, wenn sie sich "Das historische Berlin" zurückwünschen, ist eine Museumsstadt aus mittelalterlichen Kirchen, barocken Palais, pittoresken Gassen und wilhelminischen Prachtbauten; alles ohne Armut und Seuchengefahr, sondern frisch getüncht, mit Strom und Warmwasser und gutem Verkehrsanschluss, damit es bis zum Auto nicht so weit ist.
Diese Stadt hat es nie gegeben, und angesichts der Geschichte des 20. Jhdts. hätte es sie auch nicht geben können. Man darf das bedauern, man darf aber nicht die Stadtplanung von heute daran messen. Diese kann angesichts einer völlig veränderten sozialen, technischen und ökonomischen Struktur höchstens versuchen, Reminiszenzen an das Verlorene zu schaffen – die Phantasie in Wirklichkeit verwandeln kann sie nicht.
P.S.: Mit den "vollständig entsorgten Resten des Ermelerhauses" sind Fundamente aus dem 18. Jhdt. gemeint. Das Gebäude selbst wurde in den Sechzigerjahren abgetragen und am Märkischen Ufer wieder aufgebaut. Man kann dort heiraten.