Nikolaiviertel

  • ^ kein Phantomschmerz. Es ist der Wunsch nach städtischer Dichte.


    Dieses Fehlen städtischer Dichte ist ein deutsches Trauma. Die Menschen in anderen Ländern bündeln ihre Kräfte immer in einer einzigen, großen Hauptstadt, in der städtische Dichte dann folglich kein Fremdwort ist.


    Wir Deutschen sind föderal aufgestellt mit mehreren städtischen Zentren. Das hat sicherlich viele Vorteile. Ein großer Nachteil ist aber leider auch, daß keines dieser vielen Zentren die gebündelte Stärke einer konzentierten Hauptstadt wie Paris oder London erreicht. Und auch Deutschlands größte Stadt Berlin kommt da nicht heran.


    Zu dieser Ausgangslage kommen noch die historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts dazu. Sprich: was mal vorhanden war, wurde im Krieg nieder gebombt. Und was nicht zerbombt wurde, wurde von Vollidioten mit der Raupe platt gemacht und abgeräumt. Die Folge war, daß es in den großen Städten Deutschlands keine Stadträume mehr gab, in denen städtische Dichte existiert hat. Deutschlands Großstädte waren merkmürdige Orte, wo sich Häuser und Freiflächen abgewechselt haben. Als Stadtraum konnte man solche merkwürdige Orte ja nicht mehr bezeichnen.


    Es ist ein deutsches Trauma. Zumindest empfinde ich es so! Und als Deutscher darf man sich ja nicht einmal über diese Problematik beschweren, da wir ja selbst den Krieg begonnen haben und daher selbst schuld sind an diesen Entwicklungen.

  • ^ Die Metropolregion Rhein-Ruhr hat durchaus vergleichbare Größe wie Paris oder London und Hauptstadt war sie einige Jahrzehnte ebenso - willst Du den Regierungssitz wieder aus Berlin zurück verlegen? Ob ja oder nein, ich wüsste nicht, was dies mit dem Nikolaiviertel zu tun hat.
    Die Bebauung wie im Viertel könnte man auf Teile der MEF-Fläche erweitern, doch dazu gab es im MEF-Thread umfassende Debatten - ich glaube, die darüber erwähnte Bebauung des südlichen Teils gleich am Schloss hatte noch relativ die meisten Anhänger. Diese würde ich tatsächlich als eine Erweiterung des historisch anmutenden Nikolaiviertels begreifen. (Interessant - erst heute durfte ich zum Ähnlichen für Düsseldorf plädieren, als Antwort auf eines der Worte, die sicherlich bald auch hier fallen.)

  • Ob ja oder nein, ich wüsste nicht, was dies mit dem Nikolaiviertel zu tun hat.


    Es ging um den von Camondo angesprochenen Phantomschmerz.


    Und lass' doch bitte die Region Rhein-Ruhr aus dem Spiel! Selbst zu ihren Glanzeiten war die Metropolregion Rhein-Ruhr nie ein wirklich zusammenhängender Stadtraum aus einem Guss. Die Industrieregion Rhein-Ruhr war eine Abfolge von Häuservierteln, Zechen und Abraumhalden ... und dann kam irgendwann wieder ein Häuserviertel. Das ist nicht negativ gemeint. Aber so war es halt.


    Die Metropolregion Rhein-Ruhr hat durchaus vergleichbare Größe wie Paris oder London und Hauptstadt war sie einige Jahrzehnte ebenso ...


    Kannst du das bitte genauer erklären? Wann war die Metropolregion Rhein-Ruhr jemals Hauptstadt? Hauptstadt von NRW? Hauptstadt des Rheinlandes? Oder Hauptstadt von Deutschland?

  • ^... und warum haben immer diejenigen den größten Phantomschmerz, die garnicht in Berlin leben und vielleicht einmal im Jahr die Orte ihres Schmerzes aufsuchen und nicht diejenigen die hier leben und arbeiten und somit mit der Situation ganz natürlich umgehen ?!

  • ^ In den Medien sind ganz reale Schmerzen u.a. der Wohnungsmarktlage immer wieder ein Thema, auch in Berlin. In der Erweiterung des Nikolaiviertels würde ich etwa Ferienwohnungen sehen - die dann nicht woanders errichtet oder neu eingerichtet werden müssten, was wieder mehr Raum für dauerhaftes Wohnen schaffen würde. Im verlinkten Düsseldorfer Thread zeigte ich kürzlich ein nettes Altstadt-Haus mit etwas Fassadenkunst und FeWos - die inmitten des Rummels, dafür nah an Sehenswürdigkeiten, in solcher Lage absolut richtig sind.

  • Ich kann Dich beruhigen, Camondo


    Ich kenne unzählige (geborene) Berliner, die beim Anblick der Ödnis des MEF oder der Flächen rund um die Marienkirche samt der DDR-Bebauung, die so wenig Rücksicht auf die wenige noch vorhandene historische Bausubstanz nimmt, (s. bspw. die überdimensionierten Rathaus-Passagen im Plattenbau-Look) unweigerlich einen Phantomschmerz verspüren. Diese potenziert sich regelmäßig, wenn sich die Personen die Vorkriegsbebauung um das 19. Jahrhundert vor Augen führen.


    https://www.stadtmuseum.de/sit…om-und-stadtschloss_0.jpg


    https://farm2.static.flickr.co…5146422602_2636876fca.jpg

  • ^ Ich hingegen kenne keinen einzigen Berliner, der eine Bebauung des MEF wünscht oder gar vermisst. Ein Phantomschmerz. Da hat Camonodo vollkommen recht. Ich möchte aber nicht in Abrede stellen, dass es solche Menschen nicht auch geben würde.

  • ^ Selbst wenn man meinen sollte, ein schmuckes (vergrößertes) Nikolaiviertel wäre etwas für Gäste - auch wenn für manche hier das Wort Tourist die Quintesenz des Bösen zu sein scheint, mit verschiedenen Zahlen kann man leicht die große und wachsende Rolle des Tourismus für die Wirtschaft belegen. Von irgend etwas muss man leben, wenn man nicht ganz auf Bundesebene-Transfers setzen möchte. In etlichen Städten sind gerade die Altstädte die ultimativen Anziehungspunkte - nicht zuletzt deswegen wird die Frankfurter Altstadt etwas erweitert. In London, der meistbesuchten Stadt Europas (und neben Bangkok der Welt) macht es die Mischung - alte Bauten seit der Zeit der Römer dicht an dicht mit einer imposanten Skyline.


    Ich weiß, gleich kommt das mit den super-hyper modernen Bauten wie die Calatravas in Valencia - manche werden zu Magneten, viele nicht. In Berlin kann man sich mit solchen Bauten um den Alex austoben, mit Hochhausprojekten. Ein paar Entwürfe sind bekannt, hier im Unterforum stark umstritten - kann man annehmen, dass sie zu starken Besuchermagneten werden könnten? Eine Altstadt ist hingegen fast immer ein Selbstläufer, siehe das Nikolaiviertel jeden Tag.

  • Ich hingegen kenne viele Berliner, die das Marienviertel und eine kleinteilige Bebauung auf dem MEF vermissen. Keineswegs zuerst für die Touristen, sondern für die Berliner. Die meisten können ofefnbar erst so verstehen, wie Berlin entstanden ist und zu dem wurde, was es heute ist.


    Es liesse sich viel lernen: Am Neuen Markt sind die letzten Juden auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden, die Bischofstraße war das Zentrum jüdischer Fabriken und Schulen. Die kleinteilige Bebauung am Spreeufer dem Schloß gegenüber ist in internationale Kunst eingegangen (König von Portugal), einige Häuser zeugten noch von barocker Architektur - davon gibt es in Berlins Zentrum nach den verschiedensten Kulturbarbereien nurmehr weniger als 10 Häuser. Adelspalazzi liessen sich bewundern und so manche Wendung der Geschichte erklären und selbst die mittelalterliche Geschichte des 14. Jahrhunderts wäre erklärbar, z.B. warum der Stadtrat in einer offenen Laube verhandelte...


    Aber das interessiert ja auch hier niemanden, olles Zeug. Lieber auf in die Zukunft und die gleichen Fehler der Geschichte nochmal machen! Beim nächsten Mal wird sicher alles besser.

  • Aber das interessiert ja auch hier niemanden, olles Zeug. Lieber auf in die Zukunft und die gleichen Fehler der Geschichte nochmal machen! Beim nächsten Mal wird sicher alles besser.


    Ich paraphrasiere: Historisches Bewusstsein gebietet uns, die Stadt wieder in den Zustand von 1918 oder so zu versetzen. Das 20. Jahrhundert muss einem Freilichtmuseum weichen, damit man a) vom 14. Jahrhundert lernen kann und b) die Fehler des 20. Jahrhunderts nicht wiederholt. Logisch. Wer das anders sieht, ist ein geschichtsvergessener Zukunftsidiot.


    Eine hübsche, moralisch-volkspädagogische Rechtfertigungsideologie für Flächenrekonstruktionen hast Du da gebastelt – nur leider recht sinnfrei. Bau-Lfrs Begründung ("Ich find's halt geil, und es zieht Touristen an") ist zwar weniger sophisticated, dafür aber ehrlich. :cool:


    ... um das Marienviertel zu vermissen muss man mindestens 110 Jahre alt sein....


    Naja, man kann schon auch Sachen vermissen, die man nur von Fotos kennt. Allerdings vergisst man beim Vermissen dann immer die Enge, den Gestank, die schimmeligen Wände und die fehlende Kanalisation. Die Cholera kommt nicht vor, wenn man im Geiste durch die historische Altstadt schlendert. In der Vorstellung war immer alles frisch gestrichen, sauber und warm.

  • Konstantin: Du gibst mit deinem Beitrag genau die Argumente an, derentwegen weitere Rekonstruktionen im großen Stil in Berlin nicht kommen werden.
    Warum sollte etwas wiederentstehen wo Juden verbrannt wurden oder warum sollten weitere Adelspaläste wiederaufgebaut werden???


    Genau diese beiden Aspekte (Hass auf Minderheiten und Obrigkeithöhrigkeit) führten zu eben diesem Stadtbild, um das wir hier wieder diskutieren.
    Auch die DDR war eine konsequente Folge verfehlter früherer preussischer und faschistischer Politik.


    Es gehört zu Berlin und zu Deutschland, wir werden damit leben müssen.


    Im übrigen finde ich Parks mit älterem Baumbestand, wie das MEF, durchaus einer Innenstadt würdig.
    Aber es sollte m.E. weiterentwickelt werden, durch eine Teilbebauung, auf dem durch den U-Bahnbau abgeräumten Bereich. Dadurch könnte der Anschluss / Übergang zum Nikolaiviertel aus Westem u. Norden hergestellt werden.

  • "Marienviertel vermissen" muss ja auch nicht bedeuten, dass man es persönlich miterlebt haben muss...Man kennt ja andere, bis heute mit Cholera verseuchte und ohne fließendes Wasser ausgestattete Altstädte und dichte Bebauung (man muss ja nur mal über das Stadtbahnviadukt schauen) usw. von anderswo her. Da ist es doch durchaus legitim zu sagen "Fände ich hier auch schön, weil es mir so nicht gefällt".


    Außerdem geht es hier nicht Gebäudeensemblerekos à la Neumarkt, wie es hier immer versucht wird zu suggerieren.

  • Mhm - "Marienviertel", "Bebauung MEF/RF" oder "Erweiterung NV" - diese Diskussionen wurden mind. 1000x geführt. - Es gab einen Beschluss des Abgeordnetenhauses zur Entwicklung dieser Fläche gemäß dieser sog. "10 Bürgerleitlinien" - nur zur Erinnerung... Also - man kann seine Wünsche äußern, ohne Hoffnung auf Realisierung haben zu müssen... ;)

  • Man kennt ja andere, bis heute mit Cholera verseuchte und ohne fließendes Wasser ausgestattete Altstädte


    Ben, meinst du damit Altstädte in Deutschland? Mir wäre nicht bekannt, daß in den Altstädten von Bamberg oder Heidelberg sich bis heute die Cholera gehalten hätte.


    Oder ist diese Aussage nur dazu gedacht, um eine mögliche Bebauung des Marx-Engels-Forums zu verhindern?

  • ... Allerdings vergisst man beim Vermissen dann immer die Enge, den Gestank, die schimmeligen Wände und die fehlende Kanalisation. ....


    Danke für die Anerkennung der Ehrlichkeit, wobei die Sorge um die Berliner Arbeitsplätze vor Ort größer sein müsste als ich sie habe - ich lebe nicht davon, ich suche mir nur hin und wieder einen Ort aus, wo ich für ein paar Tage hin will. Bei freier Wahl gebe ich meist London, Paris, Madrid usw. den Vorzug - meine Frau wollte letztes Jahr nicht mehr nach Berlin, weil sie meinte, dass die Stadt zuwenig zu bieten hat. Ein paar Millionen solcher Frauen und der Stadt geht viel Kohle durch die Lappen.


    Das bedeutet aber nicht, dass ich die historischen Ensembles mit Gestank und Schimmel erleben muss - alle mir bekannten wiederaufgebauten Altstadt-Quartiere wurden nach den aktuellen Standards mit modernen sanitären Anlagen errichtet. Wie oft soll noch auf dem mittelalterlichen Klo-Wesen herumgeritten werden?


    Was die Enge betrifft - die SZ schrieb kürzlich in einem Artikel, dass man im Urlaub ganz besonders Urbanität und Enge sucht. In Frankfurt wird mit moderner Gestaltung das Hochhaus-Viertel Four errichtet, mit einer GFZ um 15 - diese toppt wohl sämtliche rekonstruierte Altstadt-Quartiere (dennoch wird es dort u.a. ganz normale Wohnungen geben).

  • Mhm - "Marienviertel", "Bebauung MEF/RF" oder "Erweiterung NV" - diese Diskussionen wurden mind. 1000x geführt. - Es gab einen Beschluss des Abgeordnetenhauses zur Entwicklung dieser Fläche gemäß dieser sog. "10 Bürgerleitlinien" - nur zur Erinnerung... Also - man kann seine Wünsche äußern, ohne Hoffnung auf Realisierung haben zu müssen... ;)


    Der MEF-Thread ist ist der größte hier im Forum. Es lohnt sich zur Erinnerung die Argumente die einige der Forums-Schwergewichte (bez. Beitragszahl :)) zwisschen #3455 und #3555 ausgetauscht haben noch mal durchzulesen. Diese sog.10 Bürgerleitlinien stehen sowohl inhaltlich als verfahrenstechnisch auf sehr dünnem Eis. Wenn das Schloss-Humboldt-Forum mal fertig ist und der Druck auf die Grundstücke hoch bleibt, können in einer nächsten Legislaturperiode diese Leitlinien ganz schnell Makulatur sein. Zum Vorteil der Stadt und seiner Bewohner.

  • Ihr habt Sorgen. Die Entwicklung der Berliner Kernstadt - welches Quartier man auch immer nimmt - wird weder die Arbeitslosenquote noch die Wohnraumversorgung noch den sozialen Zusammenhalt (was auch immer das sein mag) in Berlin beeinflussen - dafür ist es einfach zu klein.


    Dass ein Großteil der Menschen, die sich in Berlin für Architektur interessieren stereotype Vorbehalte gegen die "Enge" von Altstädten hegen und gleichzeitig viel Geld dafür ausgeben, um genau solche Orte im Urlaub zu besuchen ist auch bekannt. Aus dem Corbusiersessel im Gründerzeitaltbau heraus über fehlende Kanalisation und Cholera zu fabulieren, ist einfach jedoch bigott.


    Nur sind die Menschen in Deutschland keine Volldeppen, im übrigen auch in Berlin nicht. Deshalb ergeben ja regelmäßig repräsentative Umfragen satte Mehrheiten für Wiederaufbauten und Rekonstruktionen, auch im Fall des Areal um das Berliner Schloß herum. Zum Marienviertel würde man sicher ähnliche Werte erreichen, gäbe es konkrete Pläne auf einem denkmalgerechten Niveau.


    Das geben ja auch die meisten Kritiker von Rekonstruktionen offen zu: Wiederaufbauten sind populär. Deshalb darf man ja Menschen über bestimmte Fragen nicht abstimmen lassen, weil das Populismus ist. Langfristig wird das aber nicht funktionieren. Deshalb ist es richtig soweit es geht nichts zu ändern, vor allem keine weitere Bebauung zuzulassen. Wenn das Heilig-Geist- und Marienviertel leer bleibt kann später etwas Vernünftiges entstehen - solange kann es von mir aus gern beim status quo ante bleiben auch wenn dieser nach Ende der U-55-Bauarbeiten seinerseits eine Rekonstruktion des spätsozialistischen Zustandes sein wird.

  • Deshalb ist es richtig soweit es geht nichts zu ändern, vor allem keine weitere Bebauung zuzulassen. Wenn das Heilig-Geist- und Marienviertel leer bleibt kann später etwas Vernünftiges entstehen ...


    Die Sache hat nur einen kleinen Haken. Stell dir mal vor, daß zunächst unverändert gebliebene Marienviertel wir mit seiner abweisenden Leere unter Denkmalschutz gestellt. Dann wird es nicht mehr so einfach möglich sein, dort zu einem späteren Zeitpunkt "etwas Vernünftiges" entstehen zu lassen.

  • Das bedeutet aber nicht, dass ich die historischen Ensembles mit Gestank und Schimmel erleben muss - alle mir bekannten wiederaufgebauten Altstadt-Quartiere wurden nach den aktuellen Standards mit modernen sanitären Anlagen errichtet.


    Natürlich werden sie das. Und natürlich sind erhaltene Altstädte längst modernisiert. Auch wenn Konstantin mich als "bigotten" Vollhonk hinstellt – ich bin ja nicht blöd. Ich habe 15 Jahre lang in der Göttinger Altstadt in einem sanierten Fachwerkhaus von 1560 gelebt, und ich werde dieser Wohnung vermutlich mein Leben lang nachtrauern.


    Das war aber nicht das Thema meines Beitrags. Es ging nicht um die rekonstruierten oder sanierten Altstädte unserer Zeit, sondern um das "Vermissen" der verschwundenen Berliner Altstadt. Und zu der hat die Cholera nun mal dazugehört: 13 Epidemien mit tausenden Toten haben Berlin im 19. Jahrhundert heimgesucht (zu den Opfern zählten vor allem arme Leute, aber z.B. auch Prof. Hegel himself). Wer sagt, er "vermisse" diese Stadt, denkt sich deren Zustand meistens so, wie er heute wäre – nur mit malerischen Handwerksbetrieben statt mit Boutiquen und Schnellfress-Ketten. Die Realität sah anders aus.


    Natürlich kann ein saniertes Fachwerkviertel wunderschön sein, aber das war nicht mein Punkt. Ich wende mich nur gegen die Verklärung der Vergangenheit. Wenn man vergisst, wie unangenehm und ungesund das Leben in den Stadtzentren früher war, versteht man nicht, warum die Leute zwischen 1920 und 1980 das un-urbane Wohnen in Neubauvierteln mit aufgelöstem Blockrand so attraktiv fanden. Und warum es in den zerstörten Städten nach dem Krieg meist nicht das Ziel war, verlorene Stadtbilder wieder herzustellen, sondern schnell modernen Wohnraum zu schaffen. Im Osten wie im Westen, übrigens. In Kassel und Hannover hat man auch alles abgeräumt, was stehengeblieben war.


    Disclaimer 1: Ich verteidige damit weder den Flächenabriss noch den Städtebau der Moderne. Ich versuche nur zu erläutern, warum er in seiner Epoche so viele Anhänger hatte. ("Alles verblendete, kommunistische Kulturbarbaren" ist jedenfalls viel zu simpel.)


    Disclaimer 2: Ich sitze leider nicht einem Corbusier-Sessel, weil ich mir keinen leisten kann. Ich sitze in einem ausrangierten Kaffeehausstuhl, den ich für 15 Euro beim Trödelhändler erstanden habe. Und meine Altbauwohnung hat Linoleum-Fußboden. Es ließe sich doch besser diskutieren, wenn nicht ständig die Klischees mobilisiert werden würden. Besten Dank.


    Zurück zum Nikolaiviertel: Ich hatte ja schon geschrieben, dass und warum ich den Denkmalschutz für das Viertel befürworte, obwohl mir dort die Histo-Platten weniger gefallen als z.B. am Gendarmenmarkt. Ich finde aber auch, dass die fehlende städtebauliche Einbindung ein Problem ist. Die Verschwenkung des Mühlendamms und das neue Viertel ums Alte Stadthaus werden helfen. Wichtiger ist aber der Bezug nach Norden. Ich mag die Idee, das MEF zwar nicht abzuschaffen, aber es durch Häuserfronten entlag der Straßen zu verkleinern.


    Ein zweiteiliger Gebäuderiegel nördlich der Rathausstraße, geteilt durch eine Verlängerung der Poststraße, die auf das Forum führt – das gefiele mir gut. Für die Architektur schweben mir dort moderne Interpretationen historischer Bauformen vor. Quasi eine Antwort auf die Histo-Platten gegenüber, in zeitgenössisch und hochwertig. Das könnte ein interessanter Stadtraum werden, der auf unterschiedliche Zeitschichten verweist. Also mit den Mitteln des 21. Jhdts das 17. Jhdt zitiert, ohne das 20. Jhdt zu verleugnen. Ist das einleuchtend? :hmmm: