Du bringst leider einige Sachen derart durcheinander, dass ich noch kurz einige Anmerkungen geben will:
Geschmack ist eine ausgesprochen subjektive Angelegenheit, da sind wir uns wohl alle einig. Jeder hat andere Vorlieben und das ist auch in Ordnung so. Bei Dir merkt man eine entschiedene Abneigung gegenüber neuerer Architektur, was an sich auch kein Problem ist. Problematisch ist es nur dann, wenn man meint das eigene subjektive Empfinden von Ästhetik verallgemeinern zu können. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass so etwas nicht funktioniert.
Der Vergleich sollte nur aufzeigen, dass Dinge, die das Stilempfinden von vor 100 Jahren hervorgebracht hat auch heute oft noch als viel ästhetischer empfunden werden, als das, was das Stilempfinden des heutigen, architektonische Opportunismus hervorbringt.
Vielmehr als diese subjektiven Eindrücke ist doch aber tatsächliche Baugeschehen ein Indikator für den Geschmack und das Stilempfinden einer Zeit. Das wollte ich Dir auch mit meinem letzten Beitrag schon vermitteln. In diesem Sinne werden auch Deine Beispielbilder leider etwas absurd. Du zeigst einen historistischen Altbau im Vergleich zu einem relativ jungen Neubau in der Hoffnung damit zeigen zu können, dass man heute oft noch denselben Stilgeschmack hat wie im 19. Jahrhundert, richtig? Das dürftest Du aus den Beispielen schlussfolgern, wenn sich die Architekturen auch ähneln würden, aber beide Bauten unterscheiden sich nun mal sehr deutlich voneinander. Eigentlich ging es Dir ja auch um folgendes: Du hast einen (für Dich) ausgesprochen hässlichen Neubau einem prachtvollen Altbau gegenüberstellen wollen, um damit vermeintlich beweisen zu können, dass man vor gut 100 Jahren doch viel schöner als heute gebaut hätte. Aber auch dazu habe ich schon gesagt: Keiner baut absichtlichen gegen den eigenen Geschmack. Irgendwem muss also auch dieser Neubau mit den schmalen Fensterschlitzen wenigstens soweit gefallen haben, dass dafür eine Menge Baugeld in die Hand genommen wurde. Generell Opportunismus zu unterstellen ist dabei übrigens schon ziemlich frech und eine kleine Beleidigung für jene mit anderen ästhetischen Vorlieben.
Der Wert dieses Forums – und deshalb lese ich hier auch sehr oft und gerne mit – ist nun folgender: In diesem Thema wird kontinuierlich fast komplett das gegenwärtige Neubaugeschehen in Leipzig dokumentiert und besprochen. Ich würde Dir einfach mal ans Herz legen, Dich in ein paar freien Stunden mit all den vielen wertvollen Bildern und Links hierin auseinander zu setzten. So erhältst Du einen schönen und breiten Überblick über das derzeitige Baugeschehen. Vielmehr als Deine subjektiven Eigenwahrnehmungen lässt dieser Überblick dann auch einige Rückschlüsse auf die wohl derzeit dominanten Geschmacksvorlieben zu. Diese sind keineswegs uniform – allerdings in den meisten Fällen ziemlich weit entfernt vom historistischen Stilbau der Jahrhundertwende und somit von Deiner Unterstellung gegenwärtiger Vorlieben in der Ästhetik.
Außerdem: Ich wohne in meinem 100 Jahre alten Haus sehr schön. Man hat es (Überraschung!) geschafft, das Innenleben ans 21. Jahrhundert anzupassen. Und aus unerfindlichen Gründen scheint sich das finanziell sogar zu rentieren. Unglaublich, oder? Bei dem ganzen Stuck! (der übrigens vor 100 Jahren in Massen aus der Retorte kam. Könnte man sicher heutzutage auch wieder in Masse und somit günstiger herstellen. Paradox!)
Die Sanierung eines Altbaus und ein Neubau sind zwei grundverschiedene Dinge. Das kann man nicht so einfach zusammenwürfeln. Natürlich kann man einen Wohnbau von 1905 auch für heutige Verhältnisse wohnlich machen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es auch für einen Neubau eine ideale Vorlage wäre. Schließlich sind viele Lösungen bei der Sanierung von Altbauten Kompromisse zwischen Bestandsschutz und Wohnkomfort. Auf solche Kompromisse möchte man bei einem Neubau natürlich verzichten. Zum Stuck: Anbringung, Anpassung und in weiten Teilen auch Produktion sind Handwerk, wie bereits gesagt. Daran ändern auch industrielle Produktionsmöglichkeiten nicht viel. Handwerk ist aufgrund deutlich gestiegener Lohnkosten im Verhältnis heute deutlich teurer als im 19. Jahrhundert. Es ist also nicht unbedingt paradox darauf zu verzichten, besonders dann wenn auch abseits finanzieller Beweggründe keinerlei Notwendigkeit für derartige Ornamentik gesehen wird oder sie gar den eigenen Geschmacksvorlieben zuwider läuft.
Auch passen heutige Wohnansprüche hinter Giebel, Stuck und Mauerwerk. Nur ist Ästhetik einfach zu einer nicht-Priorität im Bauprozess geworden. Ganz nach dem angeführten Beispiel: "Verzierung? Brauchen wir nicht unbedingt."
Wieso ist heute Ästhetik eine „nicht-Priorität“? Lediglich die von Dir favorisierte Ästhetik hat heute weitestgehend keine Aktualität mehr. Selbstverständlich können doch auch moderne Bauten ohne Giebel, Stuck und Mauerwerk ästhetisch sein
Ich bin mal sehr gespannt, ob in 50 Jahren der von mir verlinkte Roßbach-Bau noch steht und ob das GWZ gegenüber noch steht, bei dem die Fassade schon jetzt(~5 Jahre nach Bezug!) bröckelt. Das bringt einen auch gleich zu den Finanzen. Die Ansicht, es sei insgesamt teurer, wie vor 100 Jahren zu bauen, entsteht nur aus einer Kurzsichtigkeit.
Der Roßbach-Bau steht zu recht unter Denkmalschutz. Wenn nichts Verheerendes passiert wird der auch in 100 Jahren hoffentlich noch vorhanden sein. Inzwischen 11 Jahre nach Bezug des GWZ stehen dort nunmehr die ersten Ausbesserungsarbeiten an. Das ist natürlich ausgesprochen ärgerlich. Allerdings haben eventuelle bauliche Mängel nichts mit der von Dir angesprochenen Ästhetik zu tun. Angemerkt sei überdies auch, dass Du auf vielen schönen historischen Fotos und Postkarten der frühen 20er Jahre auch bei zahlreichen historistischen Wohnhäusern bröckelnden Putz und die Notwendigkeit einer Instandhaltung erkennen kannst. Wartung, Sanierung, Ausbesserung und Erneuerung gehören zum Alltag jeder Architektur. Ziel moderner Baumeister ist es jedoch auch diese Faktoren bereits in der Bauplanung mit einzubeziehen und möglichst niedrigen finanziellen Aufwand dabei zu ermöglichen. Für unterschiedliche Anwendungsbereiche gibt es dabei auch verschiedene Lösungen. Es ist allerdings grundfalsch einfach pauschal anzunehmen, dass man so wie vor 100 Jahren bauen müsste um alles gut zu machen.