Ja, wie sich die Zeiten ändern. So muss das alte Frankfurt ein gigantisches Freilichtmuseum des Mittelalters gewesen sein, selbst Anfang des 20. Jahrhunderts, wo es noch keine mit heute vergleichbare Zuwendung zu historischer Baubstanz gab, war Frankfurt dafür in ganz Europa bekannt und gern besuchtes Reiseziel. Nun, was ist heute noch davon übrig? Frankfurt assoziiert man mit ganz anderen Stadtbildern. Aber selbst nach der quasi kompletten Zerstörung und Jahrzehnte später will man in Frankfurt an jahrhundertelange Geschichte anknüpfen und diese nicht einfach in Archiven "ablegen", nur weil es jetzt auch Stahlbeton und Hochhäuser gibt. Man hat die Gelegenheit genutzt und das "Technische Rathaus" abgerißen und rekonstruiert dort nun einen Teil des alten Frankfurts.
Die üblichen Debatten, die man erwarten kann, fanden natürlich dort auch im Vorfeld statt wenn ich an Pressemeldungen denke. Aber ich garantiere euch, in 20 Jahren wenn das dann fertig und "eingelebt" ist und schon etwas "Patina" entwickelt hat werden die Frankfurter Kinder ungläubig schauen, wenn man ihnen sagt dass das alles "nur rekonstruiert" sei - und diese Selbstverständlichkeit, mit der Gebäude dann wieder im Alltag der Menschen Fuß fassen und zu ihrer Heimat werden, die macht sie "echt" und so "original", wie sie nur sein können!
Ich bin mir sicher, dass Berlin auch ganz verliebt in sein neues Stadtschloss sein wird, wenn es dann mal fertig ist. Alle Diskussionen werden vergessen sein und wenn dann nach 20-30 Jahren mal eine Sanierung ansteht wird man die Rekonstruktion vollenden, da bin ich mir fast zu 100% sicher. Und ich bin mir sicher, dass Berlin ein Stückweit neue Identität gewinnen könne, wenn es sich im Rückblick nicht immer nur auf Krieg und Teilung sowie Wiedervereinigung der letzten Jahrzehnte fokussiert, sondern an längere Geschichte anknüpft. Man wird auch ganz neue Einsichten finden, wie dass die vielen Nachnamen von "berliner Urgesteinen" nicht grundlos auf -sky oder -ski enden, sondern dass das Nachfahren von früheren "Migranten" aus Osteuropa sind, die in Berlin Fuß gefasst haben.
Man wird auf die Hugenotten kommen, die in Berlin eine neue Heimat fanden um ihren Glauben frei auszuleben. Man wird die Geschichte Berlins mit ganz anderen Augen sehen, eben gerade nicht "völkisch-national", wie es die Nazis glauben machen wollten, sondern man wird feststellen dass unser Land, Berlin, schon immer "Multikulti" war. Ein ganz anderer Blick auf sich, durch das Bewusstsein der Vergangenheit - weiter zurückreichend als bis zum frühen 20. Jahrhundert. Und ich bin mir absolut sicher, dass dazu auch städtische Räume und Gebäude wichtig sind. Kleiner Beweis gefällig? Von den Hugenotten habe ich z.B. nur wegen einem einzigen Gebäude erfahren, dem "Französischen Dom". Gäbe es den nicht, hätte ich nie gefragt woher der Name kommt, nie die Geschichte dahinter erfahren. Ja, so simpel kann es sein.
Gebäude sind steingewordene Geschichte, kulturelles Gedächtnis. Mehr als Nutzfläche. Und Gebäude zurück zu holen in den Alltag kann das Gedächtnis erweitern. In diesem Sinne, ganz ohne tolle Sightseeing-Hotspots oder so, würde ich fast alles dafür geben, auch nur einmal durch die Straßen Berlins des frühen 20. Jahrhunderts zu wandern, die Stadt so sehen zu dürfen, wie ich sie leider nur aus verwaschenen alten schwarz-weiß Filmen kenne, die mich schon als kleinen Jungen in ihren Bann gezogen haben (ich sage nur: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt - wow!. Und ich denke, nicht nur mir ging es da so. Das ist doch nicht "nichts"?! Wenn es die Gelegenheit gibt, sei es nur punktuell, wünsche ich mir eine Anknüpfung an das "alte Berlin". Die eher temporären "Notlösungen" der Nachkriegszeit dürfen hingegen nicht auch noch zementiert werden, indem man sie z.B. unter Denkmalschutz stellt. Meine Meinung.