Zukunft des Rathausforums / Marx-Engels-Forums


  • Steinwüste


    Das ist schon eine ziemliche Arroganz gegenüber mehr als 800 Jahren Stadtgeschichte. Es hat ja seine Gründe, dass die Stadt so aussah wie sie nun einmal aussah. Sind für dich ähnliche noch erhaltene und heute von vielen als idyllisch empfundene Altstädte auch "Steinwüsten"?
    Ich würde als eingefleischter Berliner auf jeden fall Wehmut empfinden wenn ich sehe, dass ein Großteil der Stadtgeschichte mit einem Schlag ausradiert wurde.



    Das kannst du noch so oft schreiben nur wird es m.M.n dadurch nicht richtiger. Das RF ist mitnichten eine Brache sondern eine Grünanlage mit Potential künftig noch besser die weitere städtische Versieglung als grüne Oase zu kompensieren. Mit dem Fernsehturm als dessen Zentrum aus meiner Sicht ein einzigartig gelungenes städtisches Ensemble.


    Also das Rathausforum ist doch keine grüne Oase oder gar eine Grünanlage nur weil dort ein par Bäume stehen. Das MEF ist an der ruhigsten Stelle, also in der Mitte, auch komplett und großräumig versiegelt und hat wenig Aufenthaltsqualität. Aber das würdest du ja wie du sagst ohnehin bebauen lassen.


  • Denn die Rekonstruktion historischer Fassaden wird man keinen Investor vorschreiben können.


    Erstens will das auch niemand. Zweitens: Warum eigentlich nicht? Es wird kein Investor dazu gezwungen im Herzen der Hauptstadt des reichsten Landes Europas zu bauen. Wer sich ohne entsprechende Leitlinien entfalten möchte, findet sicher im arabischen Wüstensand noch ein günstiges Fleckchen.
    Und Drittens: Es wäre schon wünschenswert, wenn man überhaupt sowas wie eine Bauabsicht dem Investor abringen würde.


    Das kannst du noch so oft schreiben nur wird es m.M.n dadurch nicht richtiger. Das RF ist mitnichten eine Brache sondern eine Grünanlage mit Potential künftig noch besser die weitere städtische Versieglung als grüne Oase zu kompensieren.


    Also nur weil man die Brachfläche mit allerlei Betonplatten und Rasen belegt hat, wird daraus noch lange kein städtebaulich bedeutsames Ensemble. Ursächlich waren nun mal Kriegszerstörungen und Abriss und nicht irgendeine geplante Stadtverschönerung. Insofern kann dieser Zustand nur temporärer Natur sein, auch wenn er schon recht lange anhält.

  • ^^ @ Saxonia: Nun mal locker. Es hat ja auch seine Gründe, dass die Stadt heute so aussieht wie sie nun einmal aussieht. Und damit sollte man sich heute eher auseinandersetzen als mit einem verlorenen Stadtbild.


    Auf dem besagten Foto aus #1518 sieht das Berliner Zentrum durchaus wie eine "Steinwüste" aus. Mag ja sein, die Stadt zu der Zeit in der Realität etwas bunter und grüner war, als es auf dem Bild rüberkommt. Auch Paris kann man als Steinwüste bezeichnen, trotzdem ist es eine faszinierende Stadt. Dass hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Man redet ja auch oft vom "steinernen Berlin", obwohl die Stadt überdurchschnittlich grün und aufgelockert ist.


    Wie gesagt, ich finde, dieses Nachtrauern bringt nichts. Und ich wage die Behauptung: Wäre Berlin im Krieg unversehrt geblieben und hätte es die Nazi- und DDR-Zeit nicht gegeben mit all ihren Konsequenzen für die Stadt, wäre sie heute nicht unbedingt attraktiver, zumindest weniger interessant. Die baukünstlerische Qualität wie Prag, Paris oder Rom hatte sie trotz dichter Bebauung und zahlreicher kaiserzeitlicher Protzbauten eher nicht. Und jetz kommt mir bitte nicht mit Kommentaren wie "na toll, dass wir die Nazi-Zeit hatten" oder so. Es ist halt so gekommen und heute müssen wir uns mit den Folgen auseinandersetzen - und auch die positiven Folgen für die Stadt anerkennen.

  • Berlin war bis 1945 eine ebensolche Steinwüste, wie alle anderen natürlich gewachsenen mitteleuropäischen Großstädte. Wien, Prag, Paris, Budapest... Der Unterschied ist lediglich, dass diese es noch sind bzw. auch weiterhin sein dürfen. Ich frage mich, warum dort niemand in Erwägung zieht, die Innenstadt zu planieren und stattdessen ein paar Bäumchen zu pflanzen und Betonbänke aufzustellen?
    Nein, man muss sich nicht jeden Unzustand schön reden - man sollte viel mehr versuchen ihn zu verändern.

  • ^^ @ Saxonia: Nun mal locker. Es hat ja auch seine Gründe, dass die Stadt heute so aussieht wie sie nun einmal aussieht. Und damit sollte man sich heute eher auseinandersetzen als mit einem verlorenen Stadtbild.


    Also soll man es im Endeffekt ignorieren? Mit etwas, dass nicht mehr existiert, braucht man sich demzufolge nicht auseinandersetzen. Das ist Arragonz gegenüber der Stadthistorie. Warum die Stadt dort heute so aussieht wie sie aussieht, basiert ebenfalls auf eben jener Arroganz gegenüber dem Vorherigen. Das allein als Ausgangspunkt zu nehmen oder diesen momentanen Zustand zu konservieren, wäre eine konsequente Fortsetzung dieser Fokusierung auf die letzten 70 Jahre. Natürlich soll man die DDR dort nicht ausradieren. Niemand möchte den Fernsehturm abreißen. Ich sehe darüberhinaus keinen Grund hier mehr Gebäude oder Strukturen dieses historischen Wimpernschlages Namens DDR zu erhalten.


    Auf dem besagten Foto aus #1518 sieht das Berliner Zentrum durchaus wie eine "Steinwüste" aus. Mag ja sein, die Stadt zu der Zeit in der Realität etwas bunter und grüner war, als es auf dem Bild rüberkommt. Auch Paris kann man als Steinwüste bezeichnen, trotzdem ist es eine faszinierende Stadt. Dass hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Man redet ja auch oft vom "steinernen Berlin", obwohl die Stadt überdurchschnittlich grün und aufgelockert ist.


    Wüste ist doch in diesem Zusammehang eindeutig negativ konnotiert und steht für ein lebensfeindliches Gebiet. Das war Berlin nicht und das ist Paris auch heute nicht, Faszination hin oder her.

  • Das steinerne Berlin, das merkt man an Stellen wo es die letzten Jahrzehnte überstanden hat, war in gewisser Weise wesentlich luftiger und grüner als vieles was in den Nachkriegsjahrzehnten entstanden ist. Die 0815 Straßenbäume mit bischen Erdboden (Hundetoilette) drumherum sind ja nicht zuletzt schon darum so beliebt, weil man die Hässlichkeit der Nachkriegsarchitektur ohne kaschierendes Grün nicht erträgt (ganz anders in Altstädten in Deutschland und sonstwo in Europa, keiner sagt sich beim Besuch des steinernen Venedig "Ist aber schon trist hier, da gehören Bäume vor die Fassaden!"). Dementsprechend unmotiviert und qualitätslos ist dieses "Grün" dann ja auch fast immer, es soll ja auch nichts kosten.


    Berlin hat mehr als genug Bäume, gelegentlich gemähte Grasflächen und Pflaster. Was Berlin dringend bräuchte wäre Gestaltungswille, Stadt als Lebensraum für Menschen, aus einem Guss. Es ist doch traurig dass es nicht einmal an zentralsten Orten von Berlin beispielsweise zu ansprechender, abwechslungsreicher Grünflächengestaltung reicht, mit tollen Blühpflanzen, zig verschiedenen Baumarten wie z.B. "Liquid Amber" Bäume die in Paris so schön feuerrotes Herbstlaub tragen und auch gepflegtem Rasen (der nicht zum größten Teil aus kurz geschnittenen Unkräutern und blanken matschigen Erdstellen besteht). Ich erinnere mich noch dass z.B. der große Brunnen am Europacenter abgestellt werden sollte weil man sich die Betriebskosten sparen wollte. Kurzum, für das allerallerwichtigste, unseren alltäglichen Lebensraum, ist kein Geld und kein Gestaltungswillen vorhanden. Alles reine Funktions- und Verkehrsflächen scheint es.


    Die Sehnsucht nach dem dagewesenen Berlin ist für mich, bei mir zumindest, vorallem eine Sehnsucht nach einer anderen Art der Stadtplanung, des Städtebaus. Nicht nach ganz speziellem Fassadenschmuck, einem bestimmten Zeitgeschmack o. ä., ich denke wenn wir das mal als Schlussfolgerung aus dieser Diskussion ziehen könnten, dann hätten wir uns nicht nur im Kreis gedreht sondern evtl. sogar einen gemeinsamen Nenner gefunden.

  • tel33
    in bezug auf paris blendest du leider voellig aus, dass bereits mitte des 19ten jahrhunderts baron eugene haussmann das mittelalterliche paris zugunsten der planung die wir heute als so schoen und nachahmenswert empfinden, plattgemacht hat. niemand wuerde auf die abwegige idee kommen die breiten boulevards, avenuen etc. einzureissen um enge verwinkelte und dunkle gaesschen wiedererstehen zu lassen.
    nehmen wir einmal an diese engbebaute flaeche zwischen alex und schloss waere nicht dem krieg und seinen folgen zum opfer gefallen... ich kann mir gut vorstellen, dass sie dann irgendwann der speerschen gigantomanie geopfert worden waere und wenn nicht das, dann waeren sie in den 50er jahren oder was weiss ich, den gesetzen des marktes zum opfer gefallen.. zumal die gebauede keinesfalls herausragende architektur sondern eher aermlich und fast schon sehr bescheiden fuer die innenstadt einer hauptstadt daherkamen.

  • Ich kann Camondo (willkommen im DAF!) nur zustimmen. Es gab ja in der Tat schon zu Kaiserzeiten Planungen, wie man z. B.die Innenstadt verkehrsgünstiger gestalten könnte. Spätestens in der Weimarer Republik gab es konkrete Vorstellungen, die damalige Umgestaltung des Alexanderplatzes war sozusagen nur der Auftakt. Man muss sich vor Augen halten, dass es ein großes Verkehrsproblem in der Berliner Altstadt gegeben hat. Breite Straßen, wie die Prenzlauer Allee, sind auf schmale Gassen gestoßen. Zeitweise gab es nur Fußgängerbrücken aus Holz über die Spree!!!
    Da war man also schon bereit, auch Abzureißen, um Platz zu schaffen.


    Der Krieg hat dann natürlich mehr Substanz vernichtet als wünschenswert war und in der Zeit danach hatte man auch nicht wirklich ein Händchen für Altsubstanzpflege gehabt, aber im Grunde wurden ja nach 1945 die Pläne umgesetzt, die es bereits vorher gegeben hatte (Verbindung Unter den Linden -> Prenzlauer Alle, usw.).


    Und ich persönlich finde die Freifläche zwischen Fernsehturm und zukünftigen Schloss auch für erhaltenswert. Man müsste das Areal nur besser erlebbar machen und gepflegt halten (was am Fuße des Fernsehturms ja bereits geschieht).

  • Sind für dich ähnliche noch erhaltene und heute von vielen als idyllisch empfundene Altstädte auch "Steinwüsten"?


    Nein, eine Heidelberger Barockaltstadt beispielweise würde ich durchaus als idyllisch bezeichnen. Das trifft auf das Marienviertel siehe tel33s Bild m.E. jedoch nicht zu. Ich sehe da ein Geschäftsviertel, überwiegend mit Bauten seiner Zeit. Kaiser-Wilhelm- und Königstraße waren schon damals stark befahrene Verkehrsachsen durch dessen enge Schluchten sich viel Verkehr presste.
    Sicherlich gab es einige hübsch anzusehenden Fassaden. Aber mit einer heimeligen Altstadt ala Heidelberg würde ich das Marienviertel zum damaligen Zeitpunkt wohl kaum vergleichen.

    Also das Rathausforum ist doch keine grüne Oase oder gar eine Grünanlage nur weil dort ein par Bäume stehen. Das MEF ist an der ruhigsten Stelle, also in der Mitte, auch komplett und großräumig versiegelt und hat wenig Aufenthaltsqualität. Aber das würdest du ja wie du sagst ohnehin bebauen lassen.


    Ich schrieb von Potential. Der aktuelle Zustand lässt sich in Richtung Stadtplatz mit gepflegter Grünanlage sicherlich noch verbessern.
    Bzgl MEF: ich schrieb „ich könnte damit leben“. Was wiederum nicht gleichbedeutend ist mit „ich würde es ohnehin bebauen lassen“. Im Umkehrschluss könnte ich auch damit leben wenn es unbebaut bliebe.
    Das ist sozusagen der Kompromiss den ich bereit wäre mit denen einzugehen die das gesamte RF am liebsten überbaut sähen.


    Ben

    Ach, eine Bebauung des RF ist doch schon aufgrund der ganzen Winkel, die durch den Turm und die Stellung der Kirche entstehen eh unrealistisch und auch nicht wirklich nötig.


    Das bringt es prima auf den Punkt.


    Echter Berliner
    Wirkt der Frust über die Abfuhr deiner Bebauungsvorschläge fürs RF noch so tief, dass du es nötig hast dich im SSC aufs Ferndissen zu verlegen? Du tust mir leid.

  • Ich glaube, von einem Idyll hat hier doch auch keiner gesprochen. Ich habe gedanklich zB an meine Besuche in London gedacht, die dortigen durchaus urbanen, ja bis zu "Straßenschluchten" ausgebauten gewaltigen Bauten des 19. Jahrhunderts, des Viktorianismus, der ja dem Wilhelminismus in Berlin nicht unähnlich war. Ich glaube keiner hier will dass das Rote Rathaus in Zukunft inmitten einer Fischerdorfkulisse stünde, eine Rekonstruktion dessen wie die Bebauung vielleicht vor einigen Jahrhunderten ausgesehen haben mag. Im Moment finde ich es aber weder urban, noch idyllisch, noch stilvoll. In Westdeutschland hat man in der Nachkriegszeit ja auch mit Platte und Co. gebaut, aber da meistens in irgendwelchen neuen Trabantensiedlungen neben der Autobahn. In Berlin hat man die Schlafstadtästhetik der Industriegesellschaft ins Zentrum geholt. Das ist das, was mich daran grundsätzlich stört und ich weiss nicht wie man das ändern soll, ohne komplette Umplanungen, Neubebauungen usw.

  • ^
    Man müsste man wohl zunächst mit den am RF angrenzenden Plattenbauten anfangen. Die befinden sich jedoch im Besitz der WBM, sind saniert und erwirtschaften anscheinend immer noch genügend Rendite.
    Politisch wird ein Abriss aufgrund des Mangels an günstigen Wohnraum ebenfalls schwierig durchsetzbar sein.

  • Ich habe mir mal den Spaß gemacht, und historische Reiseführer aus der Zeit zwischen 1900 und 1938 studiert. Ich fand solche Reiseführer deshalb interessant, weil sie ganz gut darstellen, wie damals das Gebiet um die Marienkirche wahrgenommen wurde. Dabei war auffällig, dass die Reiseführer in ihrer Grundtendenz übereinstimmten und folgende Wertungen enthielten:


    Erstens wurde der Bereich um die Marienkirche weder als ein besonders bedeutsamer noch als ein besonders sehenswerter Ort betrachtet. Fast alle Attraktionen Berlins befanden sich nicht hier. Genannt werden in den Reiseführeren z.B.:
    - wichtige Geschäftsstraßen: Friedrichstraße, Leipziger Straße, Kurfürstendamm
    - berühmte Warenhäuser: Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz, KaDeWe am Wittenbergplatz
    - wichtige Hotels: Hotel Adlon - Pariser Platz, Hotel Kaiserhof - Wilhelmplatz, Hotel Esplanade - Bellevuestraße
    - berühmte Varietes: Wintergarten - Dorotheenstraße, Apollo-Theater - Friedrichstraße, Reichshallen - Leipziger Straße
    - bedeutende Cafes: Cafe Kranzler - Unter den Linden, Cafe Bauer - Unter den Linden, Romanisches Cafe - Kurfürstendamm, Cafe Josty - Hardenbergstraße
    - Vergnügungstempel: Haus Vaterland - Potsdamer Platz, in neueren Reiseführern wird das Europa-Haus am Askanischen Platz erwähnt ( mit Augustiner-Weinstuben für 2000 Gäste, Wintergarten für 2000 Gäste, Dachterrasse)
    - Theater: Staatsoper (bzw. Königliches Opernhaus,), Schauspielhaus, Kroll-Oper - Königsplatz, Städtisches Opernhaus - Bismarckstraße, Theater des Westens - Kantstraße, Schiller-Theater - Bismarckstraße, Komische Oper - Friedrichstraße, Metropol-Theater - Behrenstraße
    Man sieht, dass sich keine dieser Attraktionen im Bereich um die Marienkirche befanden.


    Zweitens wird das Gebiet um die Marienkirche nicht als die Stadtmitte betrachtet. Zur Frage, ob Berlin überhaupt eine Mitte hätte, gibt es in den einzelnen Reiseführeren unterschiedliche Angaben. Einige bezeichnen den Bereich Friedrichstraße / Unter den Linden / Leipziger Straße als die Berliner Mitte, andere schreiben, dass Berlin mehrere Zentren hätte, genannt werden dabei die Bereiche Friedrichstraße / Leipziger Straße / Potsdamer Platz, der Alexanderplatz, der Westen mit dem Wittenbergplatz und dem Kurfürstendamm. Das Gebiet an der Marienkirche wird dagegen nicht einmal als einer von mehreren zentralen Orten wahrgenommen. Diese Wahrnehmung wird auch durch die Tatsache gestützt, dass der U-Bahnhof "Stadtmitte" eben nicht in der ehemaligen Altstadt, sondern an der Friedrichstraße / Leipziger Straße eingerichtet wurde.


    Drittens führen auch die empfohlenen Stadtrundgänge eher nicht in das Gebiet um die Marienkirche. Als touristisch besonders interessant werden empfohlen:
    - die Straße Unter den Linden mit dem Schloss und der Museumsinsel
    - der Tiergarten mit der Siegesallee und dem Zoo
    - die Friedrichstadt
    - der Bereich Potsdamer Platz
    - der Kurfürstendamm
    Lediglich an hinterer Stelle wird ein Spaziergang durch das "alte Berlin" empfohlen, und hier wird eher der Bereich Petristraße / Rittergasse / Schornsteinfegergasse / Fischerstraße, also der Bereich der alten Fischerinsel, empfohlen. Als Sehenswürdigkeiten in Alt-Berlin werden nur das Rathaus, die Marienkirche, die Nikolaikirche, die Parochialkirche und ein Museum für Volkstrachten in der Klosterstraße genannt. In einigen Reiseführeren wird erwähnt, dass die Berliner Altstadt nicht mit deutschen Kleinstadtidyllen vergleichbar wäre. Hier gäbe es "kein buntes Fachwerk", "kein herabhängender Kran", "keine schönen Renaissancegiebel", "keine eigenartige Romantik des mittelalterlichen Kaufmannslebens" (so "Lührs gelber Reise- und Städteführer" von 1938).


    Ich denke also, dass die Vorstellung, dass das Gebiet um die Marienkirche vor dem Zweiten Weltkrieg ein besonders interessanter Ort oder so etwas wie eine "Altstadt" gewesen wäre, mit der Realität nichts zu tun hat.


    Ansonsten haben Katzengold und Camondo völlig Recht. Der große Unterschied zwischen Berlin und vielen anderen Städten, wie z. B. Wien, Leipzig, Köln, Halle etc. besteht darin, dass in Berlin die Beseitigung des Festungsgrabens nicht mit der Anlage einer die Altstadt umschließenden Ringstraße verbunden wurde. Durch diese Entscheidung, die schon im 18. bzw. 19. Jahrhundert gefällt wurde, war die Notwendigkeit entsprechender Durchgangsstraßen vorgezeichnet, und diese Planungen wurden ja schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Die Entscheidung gegen eine Ringstraße wiederum wurde auch deshalb getroffen, weil der Altstadtbereich schon damals nicht als wertvoll und erhaltenswert angesehen wurde. Die Planungen des Baurates August Orth aus der Zeit um 1870 zeigen diesen Zusammenhang recht gut: Einerseits plädierte er gegen eine Ringstraße auf dem Gelände des Festungsgrabens (dort sollte ja die Stadtbahn errichtet werden), andererseits plante er umfangreiche Straßendurchbrüche durch die Altstadt.

    Einmal editiert, zuletzt von Klarenbach ()

  • Interessant, das mit dem Reiseführer. Andererseits ist das aber auch nur eine zeitgeistige Auffassung. Damals herrschten andere Hygienische Zustände, zudem waren die Wohnungen hoffnungslos überbelegt. Das prägt ein gewisses Verständnis von Stadt. Damals sehnte man sich aus diesen Gründen nach mehr Raum. An dem es heute in dieser Form nicht mehr mangelt.


    Zu jener Zeit war die Spandauer Vorstadt auch "uninteressant", heute ist sie aber (bevor sie vom Tourismus übernommen wurde) wiederum eine sehr beliebte Gegend. Das Marienviertel war in seiner Struktur ähnlich. Stünde das Marienviertel in seiner alten Form noch, würde es sehr gut angenommen werden.


    Was sagt der Reiseführer über die Spandauer Vorstadt? Möglicherweise kommt sie gar nicht darin vor (Armengegend).

  • Mein lieber Klarenbach, ein netter, interpretierender Versuch der Falschinformation.


    Meine Sammlung von Reiseführers aus der Nazizeit ist nicht so dicht, aber der Baedecker von 1908 (Baedeckers Berlin, Leipzig 1908) widmet "Alt-Berlin" ein ganzes Kapitel, gleichrangig mit den Kapiteln zur Museumsinsel und Unter den Linden, also keineswegs "an hinterer Stelle". Der Bereich von Alt-Kölln wird im "Alt-Berlin"-Kapitel subsummiert.


    Die im Baedeker genannten Sehenswürdigkeiten kann ich nicht alle aufzählen, da es mehr als 12 Seiten sind.
    Über die von Klarenbach genannten Sehenswürdigkeiten hinaus aber finde ich adhoc:
    - Königkolonnaden
    - Hauptpost
    - Festungsgraben
    - Zentralmarkthalle
    - Lesinghaus Am Königsgraben 10 (Entstehungsort Minna von Barnhelm)
    - Warenhaus Tietz
    - Berolina
    - Luther Denkmal auf dem Neuen Markt
    - Hotel König von Portugal
    - Handelshochschule mit Heiliggeistkapelle
    - Garnisionkirche (besonders sehenswert: erbeutete frz. Fahnen aus der Blücherschen Beute)
    - Gräber von Kleist und Nollendorf ebd.
    - Friedrichsbrücke
    - Börse
    - Landgericht
    - Dampferanlegestelle Jannowitzbrücke
    - Waisenbrücke
    - Märkischen Provinzialmuseum
    - Völkerkundemuseum Klosterstraße
    - Hohes Haus ebd.
    - Ritterakademie
    - Geheimes Staatsarchiv
    - Kunstschule (Gropius)
    - Rauch-Museum
    - Gymnasium zum Graues Kloster mit Tafel für Schüler Bismarck mit vielen Beschreibungen zu Architektur und Geschichte
    - Franziskaner-Kloster
    - Parochialkirche (Nering)
    - Stadthaus (Hoffmann)
    - Großer Jüdenhof
    - Molkenmarkt
    - Krögel
    - Palais Schwerin
    - Ephraimpalais
    - Nikolaikirche
    - Dammühlengebäude
    Alt-Kölln folgt genauso ausführlich.


    Zusammengefasst muss das für die Zeitgenossen wirklich eine kaum erwähnenswerte Ecke gewesen sein, wahrlich an "hinterer Stelle"...

  • Konstantin
    wir diskutieren hier die flaeche zwischen alexanderplatz und stadtschloss. ungefaehr 7/8 der von dir angefuehrten highlights befinden oder befanden sich ausserhalb dieser flaeche. insofern netter versuch.
    mkwiteaux
    die spandauer vorstadt war die ,bevorzugte' wohngegend der juedischen mitbuerger, sozusagen das berliner staedel. ich kann mir gut vorstellen, dass es deswegen keinerlei erwaehnung gefunden hat.

  • Alt- Berlin ist doch durch die Stadtbahn und den Spreekanal - mit direktem Umfeld definiert. Bei "Alt-Berlin" kann es ja nicht nur um das Marx-Engels-Forum und das sog. Rathausforum gehen. Es geht doch um den generellen Stellenwert der ehem. Altstadt.

  • Revolution von unten

    Wenn ich das Bild in tel33s Post sehe dann kommen mir beim Anblick dieser versiegelten Steinwüste keine nostalgischen Gefühle auf.


    Wenn du dir jegliches beliebige schöne Viertel, das bei dir auf Erden Heimat- oder Wohlfühl- oder Identitätsgefühle auslöst, aus nämlicher Luftperspektive anschaust, wie von Tel33 gepostet, wirst du genannte Gefühle jedenfalls nicht bekommen.


    Ein durchsichtiges Vernebelungsmanöver, das leider in diesen Diskussionen immer wieder vorkommt. Immer die gleichen vordergründigen Abwehrgesten, die keine Substanz haben.


    Hier mal ein schönes Bild des Viertels von unten.


    http://www.berliner-historisch…ienkirche%20um%201900.jpg
    Kopierrecht gemeinfrei (Berliner Historische Mitte)


    --------------------
    Hinweis der Moderation: Die Einbindung der Bilddatei wurde in einen Link geändert. Bitte künftig auf die Richtlinien für das Einbinden von Bildern achten! Vielen Dank.
    Bato


    Also bei mir löst das sehr schöne "Berliner Gefühle" aus. Können wir uns darauf einigen? Ist doch nun wirklich nicht schwer, die Intention zu kapieren.

  • Konstantin
    aber auch hierbei moechte ich dir widersprechen. was du als altstadt nennst und worunter ich soetwas wie die keimzelle der stadt verstehe ist eher das nicolaiviertel rund um die aelteste kirche der stadt zu suchen und coelln ist noch etwas aelter als berlin. wie auch sehr schoen auf dem bild von echter berliner zu sehen sind die dort abgebildeten haueser eher der zweiten haelfte des 19ten jahrhundert, neobacksteingotik zuzuordnen.

  • Berlin hatte nie eine echte "Altstadt" das liegt zum einen anderen dass Berlin als richtige Stadt einfach nicht alt ist, nicht einmal die Wurzeln als ein Konglomerat aus abgelegenen Dörfchen reichen besonders weit zurück - zu einer größeren Stadt wurde Berlin erst in der Neuzeit. In Mittelalter und Renaissance spielten Städte wie Köln, Augsburg oder Nürnberg die Hauptrolle in deutschsprachigen Landen. Darum gibt (bzw. gab es dort bis zum Krieg) riesige Altstädte (=älter als Gründerzeit, Klassizismus und Stück des 19. Jh., die ja schon damals nur auf "alt" gemacht waren).


    Sowas fehlt mir auch nicht wirklich in Berlin.


    Und zeitgeschmäcklerische Einordnungen in Reiseführern, ich sag einmal so, man findet immer das anziehend was selten ist. Heute lieben die Städtereisenden daher die Altstädte früher waren das eben genau umgekehrt. Und man wäre früher auch nie auf die Idee gekommen, die hübschen luftigen Klinkergebäude, die man als Fabriken nutzte, zu teuren "Loftwohnungen" oder "Start Up" Büros umzubauen. Heute heiß begehrt, früher schnöde Nutzfläche. So ändert sich das Empfinden eben.

  • Blenden wir mal aus, dass ein gewaltiger Teil der von Klarenbach aus den Reiseführern genannten Sehenswürdigkeiten nicht mehr existieren.


    Für Zeitgenossen der Reiseführer war Alt-Berlin nichts Besonderes. Das ist eine Feststellung, die ich so unterschreiben würde. Allerdings, wen überrascht das? In einer Zeit, in der man noch das alte Köln, Frankfurt, Dresden, Nürnberg, Braunschweig u.v.m. bestaunen konnte, war es wirklich nicht verwunderlich, dass die darüberhinaus vergleichsweise kleine Altstadt der im Mittelalter und auch zum Beginn der frühen Neuzeit relativ unbedeutenden Stadt keine Begeisterungsstürme auslöste. Der schlechte Zustand dieser Altstädte tat selbstverständlich sein übriges. Aber diese Wahrnehmung kann doch für heutige Entscheidungen wirklich keine Hilfe sein. In Erfurt überlegte man Anfang des 20. Jahrhunderts die Krämerbrücke für eine verkehrsgerechtere Lösung abzureißen was im wesentlichen an den Kosten scheiterte. Ich denke darüber ist heute jeder froh.


    Im Übrigen geht es mir bei der Debatte auch überhaupt nicht darum etwas besonderes oder gar einzigartiges an der Berliner Altstadt zu suchen. Im Gegenteil die Altstadt war ja ein klassisches und auch heute noch vielfach zu findendes Produkt der Verschmelzung einer frühen Kaufmannsiedlung mit der planmäßigen Stadtanlage im Zuge der deutschen Ostsiedlung. Nur ist das heute kaum noch ablesbar und ohne die Rekonstruktion von und um St. Nikolai in der Spätphase der DDR wäre es nahezu unmöglich nachzuvollziehen.
    Es kann auch nicht Sinn und Zweck der Sache sein für Touristen oder Auswärtige Schritte zu vollziehen, die sich an Altberlin orientieren. Als Berliner wäre es mein eigenes Interesse die jahrhundertealte Geschichte sichtbar weiterzuschreiben und nicht einen Zustand zu konservieren, dessen Ziel es war gerade diese weitestgehend auszuradieren.