Die Semper-Barrikade
Die Semper-Barrikade
Der größte Architekt des 19. Jahrhunderts wollte am liebsten Künstler an der Spitze der Republik
Nikolaus Bernau, Berliner Zeitung
Ein Architekt als straßensperrender Revolutionär, als einer, der wie Gottfried Semper von 1849 bis 1863 per Steckbrief vom sächsischen König gesucht wird? Solche Aufsässigkeit ist außergewöhnlich in diesem Metier. Denn die Architektur ist eine teure Kunst, bedarf der Stetigkeit und der Loyalität zwischen Auftraggeber und Künstler. Doch Semper, der am 29. November 1803, also am Sonnabend vor zweihundert Jahren in Hamburg geboren wurde, ist eine Ausnahme, und zwar in jeder Hinsicht: gesellschaftlich, politisch, künstlerisch. Mancher sieht ihn noch vor Schinkel als größten deutschen Architekten des 19. Jahrhunderts, zusammen mit dem Engländer Sir John Soane gar als das Genie seiner Zeit.
Doch während Soane seine Lobbies beim englischen Adel pflegte und Schinkel seinem König ehrfurchtsvoll diente, wechselte Semper eher den Ort des Schaffens, als wesentliche Kompromisse mit seinen Auftraggebern oder deren Verwaltungen einzugehen. Lebenslang war er unruhig, auf dem Weg zu Besserem. Semper stammte aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die stolz war auf ihre niederländisch-reformierten und hansestädtisch-republikanischen Wurzeln. Seit 1823 studierte er in Göttingen Geschichte, Mathematik und Hydraulik, wollte sich als Ingenieur dem Kanal- und Wasserbau verschreiben. Doch nach einer kurzen Zwischenstation an der Münchner Kunstakademie ging Semper 1826 nach Paris, arbeitete im Atelier des Direktors der Ecole des Beaux Arts, Christian Gau.
Der brachte ihm nicht nur die fulminante Zeichentechnik der französischen Architekten bei - in einer Ausstellung im Zürcher Museum für Gestaltung, aber auch in einer kleinen Studienausstellung des Dresdner Landesdenkmalamtes kann man dies derzeit bewundern. Gau gab ihm auch jenes akademische Selbstbewusstsein mit auf den Weg, dass der Künstler vor allem sich selbst verantwortlich sei. Und Gau war es, der Semper das Thema für die dreijährige Studienreise durch Südfrankreich, Italien, Sizilien und Griechenland auftrug: Die Untersuchung der Farbigkeit von antiken Bauten.
Der 1834 in Altona erschiene Bericht wurde die Grundlage für Sempers Ruhm als Polemiker, als Architekturtheoretiker und bald auch als Architekt. Denn ob die Antike ihre Bauten materialsichtig gelassen habe oder diese eine schmückende, farbige Stuckbekleidung erhalten hatten, wie es Semper rekonstruierte, das war eine der großen Streitfragen der Zeit. Dabei ging es nicht nur um Kunstgeschichte, sondern darum, ob die Klassizisten mit ihrer Schwarzweiß-Sicht der Tempel und letztlich auch der aktuellen Architektur Recht hätten oder diejenigen, die sich eine Belebung durch mehr Variationsfreiheit in Formen, Materialien und Farben erhofften. Die griechische Demokratie aber hatte Farbe, Individualität, Freiheit, so Semper - und Gleiches forderte er für die Bürger und Architekten des 19. Jahrhunderts, die er als unterdrückt von monarchischer Allgewalt und als doktrinären, weißen Klassizismus ansah. Am sächsischen Hof wurde solch aufrührerisches Schreiben offenbar durchaus toleriert, so lange der Architekt dem trotz mancher Reformbemühungen erstarrten lokalen Baugeschehen neue Wege weisen konnte.
1834 wurde Semper nach Dresden berufen. Zwar verhandelte er nach dem Hamburger Brand 1842 über einen Wechsel in die Heimatstadt, blieb dann aber doch in Dresden und entwarf innovativ das in den Formen der italienischen Frührenaissance gestaltete erste Hoftheater und die Gemäldegalerie, deren reich geschmückte Fronten die zierliche Rokokodekoration des Zwingers widerspiegeln. Allerdings musste Semper nach dem Bau der "Semper-Barrikade" in der Wilsdorfer Gasse 1849 über Paris nach London fliehen, wurde zum informellen Berater für die Weltausstellung 1851 und zum Mitgründer des Victoria and Albert-Museums, des ersten Kunstgewerbemuseums der Welt.
Längst weltberühmt durch seine Schriften und Dresdner Bauten wählte ihn 1855 der Schweizer Bundesrat auf Lebenszeit zum Professor am Polytechnicum in Zürich, dessen Hauptgebäude Semper seit 1858 entwarf. 1860 traf er im Salon von Mathilde Wesendonck den Komponisten Richard Wagner, entwarf für diesen einen Taktstock. 1863 wird der sächsische Haftbefehl aufgehoben. Doch bleibt die Unruhe, obgleich er mit dem 1865 entworfenen Stadthaus für Winterthur nach eigenen Worten sein Meisterwerk bauen konnte.
Im gleichen Jahr möchte der bayerische König Ludwig II. für Wagner ein riesiges Festspielhaus in München nach Sempers Plänen errichten - das Projekt scheitert an politischen Querelen. 1869 brennt das Hoftheater in Dresden ab, auf Druck der konservativen Bürger, die sich einen exakten Nachbau erhoffen, muss der König ausgerechnet Semper für den Neubau verpflichten. Doch entsteht wieder ein revolutionäres Werk, nun in den Formen der italienischen Hochrenaissance.
Gleich darauf erhält Semper den Auftrag von Kaiser Franz Joseph II., in Wien ein prachtvolles Kaiserforum zu entwerfen. War der 48er doch zu einem Anhänger der Monarchie geworden? Wie jetzt auf einem Symposium in Dresden deutlich wurde, war Semper vor allem von der Führerschaft des Künstlers und des Genies überzeugt, während ihm tatsächliche demokratische Mitsprache oder gar das für Republiken unabdingbare Gremienwesen ärgerte. Das Ziel von Semper war weniger eine Demokratie als eine geistige Republik, die nicht dem Herrscher diente, sondern der vom Künstler angeführten Allgemeinheit. Auch seine Vorliebe für die Architekturformen der italienischen Renaissance deutet in diese Richtung: Die Stadtrepubliken Florenz und Venedig galten ihm als politische Vorbilder, deren Architektur als Synonym stolzer, elitärer Bürgerschaft. Der gerade in der DDR gepflegte politische Semper-Mythos - auf den auch die Unsitte zurückgeht, die Oper oder die Galerie nach dem Architekten zu bennen - wird also derzeit entstaubt.
Doch zu Tage tritt dahinter immer mehr der faszinierende Theoretiker, dessen Schriften zur Kulturgeschichte der Architektur bis heute anregen. Die Zürcher Ausstellung zeigt eine Rekonstruktion eines 1862 von Semper entworfenen Schiffes: Eine leichte Eisenkonstruktion, mit bemalten Planen verhängt. Ein modernes "Urzelt", von welchem nach Semper alle Architektur ausging. Gerade diese Suche nach neuen Oberflächenwirkungen, die sich nicht erschöpfen in Traditionalismus oder Modernismus, prägt auch heute viele Architekten. Sempers Leidenschaft für die Bekleidung, für das Loslösen des Äußeren von der Konstruktion, seine Feindschaft gegen alle Kopie und gleichzeitige Verteidigung der lokalen Einbindung und der Rücksicht auf Traditionen - all dies macht ihn heute wieder so lebendig.