Die Semper-Barrikade

  • Die Semper-Barrikade

    Die Semper-Barrikade
    Der größte Architekt des 19. Jahrhunderts wollte am liebsten Künstler an der Spitze der Republik


    Nikolaus Bernau, Berliner Zeitung


    Ein Architekt als straßensperrender Revolutionär, als einer, der wie Gottfried Semper von 1849 bis 1863 per Steckbrief vom sächsischen König gesucht wird? Solche Aufsässigkeit ist außergewöhnlich in diesem Metier. Denn die Architektur ist eine teure Kunst, bedarf der Stetigkeit und der Loyalität zwischen Auftraggeber und Künstler. Doch Semper, der am 29. November 1803, also am Sonnabend vor zweihundert Jahren in Hamburg geboren wurde, ist eine Ausnahme, und zwar in jeder Hinsicht: gesellschaftlich, politisch, künstlerisch. Mancher sieht ihn noch vor Schinkel als größten deutschen Architekten des 19. Jahrhunderts, zusammen mit dem Engländer Sir John Soane gar als das Genie seiner Zeit.


    Doch während Soane seine Lobbies beim englischen Adel pflegte und Schinkel seinem König ehrfurchtsvoll diente, wechselte Semper eher den Ort des Schaffens, als wesentliche Kompromisse mit seinen Auftraggebern oder deren Verwaltungen einzugehen. Lebenslang war er unruhig, auf dem Weg zu Besserem. Semper stammte aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die stolz war auf ihre niederländisch-reformierten und hansestädtisch-republikanischen Wurzeln. Seit 1823 studierte er in Göttingen Geschichte, Mathematik und Hydraulik, wollte sich als Ingenieur dem Kanal- und Wasserbau verschreiben. Doch nach einer kurzen Zwischenstation an der Münchner Kunstakademie ging Semper 1826 nach Paris, arbeitete im Atelier des Direktors der Ecole des Beaux Arts, Christian Gau.


    Der brachte ihm nicht nur die fulminante Zeichentechnik der französischen Architekten bei - in einer Ausstellung im Zürcher Museum für Gestaltung, aber auch in einer kleinen Studienausstellung des Dresdner Landesdenkmalamtes kann man dies derzeit bewundern. Gau gab ihm auch jenes akademische Selbstbewusstsein mit auf den Weg, dass der Künstler vor allem sich selbst verantwortlich sei. Und Gau war es, der Semper das Thema für die dreijährige Studienreise durch Südfrankreich, Italien, Sizilien und Griechenland auftrug: Die Untersuchung der Farbigkeit von antiken Bauten.


    Der 1834 in Altona erschiene Bericht wurde die Grundlage für Sempers Ruhm als Polemiker, als Architekturtheoretiker und bald auch als Architekt. Denn ob die Antike ihre Bauten materialsichtig gelassen habe oder diese eine schmückende, farbige Stuckbekleidung erhalten hatten, wie es Semper rekonstruierte, das war eine der großen Streitfragen der Zeit. Dabei ging es nicht nur um Kunstgeschichte, sondern darum, ob die Klassizisten mit ihrer Schwarzweiß-Sicht der Tempel und letztlich auch der aktuellen Architektur Recht hätten oder diejenigen, die sich eine Belebung durch mehr Variationsfreiheit in Formen, Materialien und Farben erhofften. Die griechische Demokratie aber hatte Farbe, Individualität, Freiheit, so Semper - und Gleiches forderte er für die Bürger und Architekten des 19. Jahrhunderts, die er als unterdrückt von monarchischer Allgewalt und als doktrinären, weißen Klassizismus ansah. Am sächsischen Hof wurde solch aufrührerisches Schreiben offenbar durchaus toleriert, so lange der Architekt dem trotz mancher Reformbemühungen erstarrten lokalen Baugeschehen neue Wege weisen konnte.


    1834 wurde Semper nach Dresden berufen. Zwar verhandelte er nach dem Hamburger Brand 1842 über einen Wechsel in die Heimatstadt, blieb dann aber doch in Dresden und entwarf innovativ das in den Formen der italienischen Frührenaissance gestaltete erste Hoftheater und die Gemäldegalerie, deren reich geschmückte Fronten die zierliche Rokokodekoration des Zwingers widerspiegeln. Allerdings musste Semper nach dem Bau der "Semper-Barrikade" in der Wilsdorfer Gasse 1849 über Paris nach London fliehen, wurde zum informellen Berater für die Weltausstellung 1851 und zum Mitgründer des Victoria and Albert-Museums, des ersten Kunstgewerbemuseums der Welt.


    Längst weltberühmt durch seine Schriften und Dresdner Bauten wählte ihn 1855 der Schweizer Bundesrat auf Lebenszeit zum Professor am Polytechnicum in Zürich, dessen Hauptgebäude Semper seit 1858 entwarf. 1860 traf er im Salon von Mathilde Wesendonck den Komponisten Richard Wagner, entwarf für diesen einen Taktstock. 1863 wird der sächsische Haftbefehl aufgehoben. Doch bleibt die Unruhe, obgleich er mit dem 1865 entworfenen Stadthaus für Winterthur nach eigenen Worten sein Meisterwerk bauen konnte.


    Im gleichen Jahr möchte der bayerische König Ludwig II. für Wagner ein riesiges Festspielhaus in München nach Sempers Plänen errichten - das Projekt scheitert an politischen Querelen. 1869 brennt das Hoftheater in Dresden ab, auf Druck der konservativen Bürger, die sich einen exakten Nachbau erhoffen, muss der König ausgerechnet Semper für den Neubau verpflichten. Doch entsteht wieder ein revolutionäres Werk, nun in den Formen der italienischen Hochrenaissance.


    Gleich darauf erhält Semper den Auftrag von Kaiser Franz Joseph II., in Wien ein prachtvolles Kaiserforum zu entwerfen. War der 48er doch zu einem Anhänger der Monarchie geworden? Wie jetzt auf einem Symposium in Dresden deutlich wurde, war Semper vor allem von der Führerschaft des Künstlers und des Genies überzeugt, während ihm tatsächliche demokratische Mitsprache oder gar das für Republiken unabdingbare Gremienwesen ärgerte. Das Ziel von Semper war weniger eine Demokratie als eine geistige Republik, die nicht dem Herrscher diente, sondern der vom Künstler angeführten Allgemeinheit. Auch seine Vorliebe für die Architekturformen der italienischen Renaissance deutet in diese Richtung: Die Stadtrepubliken Florenz und Venedig galten ihm als politische Vorbilder, deren Architektur als Synonym stolzer, elitärer Bürgerschaft. Der gerade in der DDR gepflegte politische Semper-Mythos - auf den auch die Unsitte zurückgeht, die Oper oder die Galerie nach dem Architekten zu bennen - wird also derzeit entstaubt.


    Doch zu Tage tritt dahinter immer mehr der faszinierende Theoretiker, dessen Schriften zur Kulturgeschichte der Architektur bis heute anregen. Die Zürcher Ausstellung zeigt eine Rekonstruktion eines 1862 von Semper entworfenen Schiffes: Eine leichte Eisenkonstruktion, mit bemalten Planen verhängt. Ein modernes "Urzelt", von welchem nach Semper alle Architektur ausging. Gerade diese Suche nach neuen Oberflächenwirkungen, die sich nicht erschöpfen in Traditionalismus oder Modernismus, prägt auch heute viele Architekten. Sempers Leidenschaft für die Bekleidung, für das Loslösen des Äußeren von der Konstruktion, seine Feindschaft gegen alle Kopie und gleichzeitige Verteidigung der lokalen Einbindung und der Rücksicht auf Traditionen - all dies macht ihn heute wieder so lebendig.

  • Semper war sicherlich nicht nur an einer "Oberflächenwirkung" im Sinne der "Materialwirkung" der Oberfläche interessiert, was die heutige Architektur prägt und wodurch sich der Bezug eigentlich verbietet, und ob er angesichts der Zerstörungen unserer Städte heute auch gegen "Kopien" wäre ist rein spekulativ. Herr Bernau pickt sich hier mal wieder raus was ihm für seine Argumentation dienlich erscheint. Er sollte Semper lieber in Frieden ruhen lassen.

  • wieso pickt er raus was ihm passt? wer sich mit semper beschäftigt weiss dass er ein ernstzunehmender architekt war mit dem "in dubio pro reco" nicht zu vereinbaren wäre. das hat nichts mit der zeit zu tun in der man lebt. damit steht er in einer tradition die von vitruv über michelangelo bis zu jean nouvel und zukünftigen generationen reicht und reichen wird. das ist keine selbstgebastelte binsenweisheit eines freizeitarchitekten sondern eine erkenntnis die aus der auseinandersetzung mit der wissenschaft/kunst architektur herrührt. genauso wie philosophen versuchen mit worten wahrheit darzustellen genauso ist es die aufgabe der architekten dasselbe in räumen und was auch immer zu tun. alles ist relativ und selbstverständlich gibt es ausnahmen aber unsere zeit hat seine probleme seine herausforderungen aber auch seine möglichkeiten. gute architekten werden sich damit auseinandersetzen und sie bestmöglich zu lösen versuchen. in deutschland gibt es leider nicht sehr viele gute architekten, aber werner sobek (stuttgart) hat z.b. mit seiner studie "R 129" einen beitrag zur weiterentwicklung der architektur geliefert, so wie das semper zu seiner zeit machte.

  • Es wäre jetzt genauso spekulativ, würde ich Herrn Semper in die heutige Zeit versetzen und ihm ein imaginäres Urteil über Rekonstruktionen und den "Wahrheitsanspruch" der Gegenwartsarchitektur in den Mund legen. Meine Überzeugung ist daß ein ernstzunehmender Architekt heute mit der Angemessenheit einer Rekonstruktion im Vergleich zu einer Neuschöpfung argumentiert, was ja auch vielen Fachleuten der Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses anstelle einem der modernen Entwürfe den Vorzug geben ließ, da es im logischen Zusammenhang mit seinem Umfeld mehr "Wahrheit" enthalten wird als jede Alternative. An dem Artikel gefällt mir übrigens die Erwähnung daß Semper ein Gegner "doktrinären" Denkens war. In diesem Punkt hätte er heute jedenfalls genug Anlaß zur Kritik.

  • PS: find ich toll daß du dir meine Signatur aus dem aph Forum gemerkt hast, spricht ja dafür daß du dort bei den "nicht ernstzunehmenden" öfter reinschaust :)

  • semper gehört sicherlich mitunter zu den bedeutensten architekten des 19. Jhds. - für mich sind semper und schinkel auf einem "level"


    [orginal von Dirk1975 bei APH gepostet]
    Hamburg gab ihm keine Chance


    Jubiläum: Heute vor 200 Jahren wurde Gottfried Semper in der Hansestadt geboren. Aber nicht hier, sondern in Dresden prägte der berühmte Architekt das Stadtbild.


    Von Matthias Gretzschel


    Hamburg - In vielen Lexika steht, dass Gottfried Semper am 29. November 1803 in Altona zur Welt gekommen sei. Doch in Wahrheit wurde er nicht erst durch das von den Nazis erlassene Groß-Hamburg-Gesetz nachträglich zum Hamburger, er war es von Anfang an: Sein Geburtshaus stand, wie Hermann Hipp, Professor am Kunstgeschichtlichen Seminar der Uni Hamburg, erst kürzlich recherchierte, am Neuen Wall, wo die Familie eine Hinterhofwohnung gemietet hatte. Später zogen die Sempers in ein Haus am Hopfensack, 1806 nach Altona.


    Die Beziehung dieses - neben Karl Friedrich Schinkel - bedeutendsten deutschen Architekten des 19. Jahrhunderts zu seiner Geburtsstadt war allerdings zeitweise problematisch. "Ich habe Hamburg, dieses nichtswürdige Sodom, aus meiner Geographie ausgestrichen. Ich vermeide alles, was mich daran erinnern kann, dass es existiert", schrieb er am 26. November 1845 an seine Mutter nach Altona.


    Wut und Enttäuschung erklären sich aus einer ganzen Reihe von Misserfolgen und Enttäuschungen, die der zu jener Zeit schon prominente Architekt ausgerechnet in seiner Vaterstadt erlitten hatte: Nach dem "Großen Brand" vom Mai 1842 engagierte sich Semper sofort für Hamburgs Wiederaufbau, entwarf Pläne für ein neues Zentrum und ein neues Rathaus - ohne dass auch nur eines der Projekte realisiert wurde.


    Am Wettbewerb für den Wiederaufbau der Hauptkirche St. Nikolai, deren Überreste er aus denkmalpflegerischen Gründen am liebsten erhalten hätte, beteiligte er sich mit dem genialen Projekt eines Zentralbaus im Rundbogenstil. Wie Dresden seine "Semperoper", hätte Hamburg damit seine "Semperkirche" erhalten können. Er gewann zwar den ersten Preis, gebaut wurde aber der romantisch-neugotische Entwurf des Londoner Architekten John Gilbert Scott.


    Und auch als Semper etwa 20 Jahre später einen Entwurf für die Kunsthalle vorlegte, kam er damit nicht zum Zug, wirkte dann aber 1862/63 immerhin als Preisrichter in jener Jury mit, die die jungen Berliner Architekten Georg Theodor Schirrmacher und Hermann von der Hude mit dem heutigen Altbau des Hamburger Museums beauftragten.


    Nicht in Hamburg, sondern in Dresden, Zürich und Wien konnte Semper jene Bauwerke verwirklichen, mit denen er seinen Platz in der Architekturgeschichte fand.


    Gottfried Semper wuchs zwar in Altona auf, besuchte aber von 1819 bis 1823 das Johanneum in Hamburg. Anschließend studierte er in Göttingen Mathematik, um Artillerieoffizier zu werden. 1825 entschied er sich dann doch gegen eine militärische Laufbahn und ging nach München, um hier Architektur zu studieren. Als er die bayerische Residenz ein Jahr später wegen eines Duells fluchtartig verlassen musste, ließ er sich in Paris nieder, wo er seine Architektur-Ausbildung vervollständigen konnte.


    Bei Reisen durch Italien und Griechenland studierte er die antiken Bau- und Bildwerke, wobei er sich besonders für deren ursprüngliche Farbigkeit interessierte - ein damals viel diskutiertes Thema. Semper vertrat die These, dass die antiken Bauwerke und Plastiken polychrom, also farbig gefasst, waren, was im Widerspruch zum klassizistischen Ideal einer "weißen Antike" stand.


    Seinen ersten eigenen Bauauftrag erhielt er 1834 in Altona: Es war das Privatmuseum, in dem Conrad Hinrich Donner seine Skulpturensammlung aufstellte (1942 zerstört, später abgerissen). Noch während der Bauarbeiten erreichte Semper ein Ruf aus Dresden, wo er eine Professur erhielt und Leiter der Bauschule an der Kunstakademie wurde. Jetzt konnte er sowohl seinen architekturtheoretischen Interessen nachgehen als auch selbst bauen. Auch wenn manche seiner Dresdner Planungen am Ende eine Nummer kleiner ausfielen als ursprünglich gewünscht, schuf er hier mit der Synagoge (1837), die sein einziger realisierter Sakralbau bleiben sollte, dem ersten Hoftheater (1838/41), der "Villa Rosa" (1838) und der Gemäldegalerie, mit der er den Zwingerhof abschloss (1847/54), einige seiner wichtigsten Gebäude.


    Während der Mairevolution von 1849 konstruierte er dann allerdings Bauwerke ganz anderer Art - nämlich Barrikaden. Wie auch sein Künstlerkollege Richard Wagner wurde Semper nach der Niederschlagung des Aufstands per Steckbrief "als Mitglied der Umsturzpartei" gesucht. Der revolutionäre Professor ließ seine siebenköpfige Familie in Dresden zurück und ging zunächst nach Paris und später nach London ins Exil.


    1855 wurde er dann an das neugegründete Eidgenössische Polytechnikum berufen, dessen Hauptgebäude er 1858/65 baute. In der Zürcher Zeit schrieb er sein Hauptwerk "Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten", in dem er das Verhältnis von Material, Technik und Zweck zum ideellen Gehalt eines Kunst- und Bauwerks hinterfragte. In seinem letzten Lebensjahrzehnt konnte Semper von 1869 an in Wien das Forum mit der Hofburg, das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum sowie das Burgtheater an der Ringstraße erbauen.


    Es mag für den Architekten eine Genugtuung gewesen sein, dass Sachsen ihn, den steckbrieflich gesuchten Aufrüher, darum bat, das 1869 durch einen Brand zerstörte Dresdner Hoftheater wieder aufzubauen. Die örtliche Bauleitung des in seiner architektonischen Konzeption stark veränderten Theaters, das heute als "Semperoper" bekannt ist, übernahm er allerdings nicht mehr selbst, sondern übertrug sei seinem Sohn Manfred. Das Theater wurde 1878 eingeweiht, ein reichliches Jahr später, am 15. Mai 1879, starb Gottfried Semper in Rom.


    Dass die Hansestadt, indem sie Semper gleich mehrfach abblitzen ließ, eine große Chance verpasst hatte, schien der Rats- und Bürgerdeputation, die 1842-45 für Hamburgs Wiederaufbau zuständig war, schon bald zu dämmern: Mit Beschluss vom 13. Dezember 1845 bedankte sich die Stadt für seinen Beitrag zum Wiederaufbau und übersandte ihm sechs Portugaleser. 1893 erinnerte die Kunsthalle, 1903 das Museum für Kunst und Gewerbe an Hamburgs größten Architekten, zu dessen 200. Geburtstag jetzt leider kein Hamburger Museum eine Ausstellung zeigt.


    Wenigstens ist sein Name durch das 1905 von Franz Bach an der Spitalerstraße 10 errichtete "Semperhaus" in Hamburg präsent. Im Eingangsbereich befindet sich auch das in der Öffentlichkeit kaum bekannte Hamburger Semperdenkmal. Die lebensgroße Sitzstatue ist ein Werk von Sempers jüngstem Sohn Emanuel (1841-1911). Hier findet auch - aus Platzgründen allerdings nur für angemeldete Gäste - die von der Freien Akademie der Künste ausgerichtete Hamburger Geburtstagsfeier für Gottfried Semper statt.


    Hamburger Abendblatt, 29. Nov 2003


    die "semperkirche"

    quelle: http://www.bildindex.de
    und die synagoge in dresden (zerstört):

    quelle: TU Darmstadt - Beriech CAD- Architektur
    Kai

  • Ornament ist kein Verbrechen
    Im Jahr seines 200. Geburtstages sind Werk und Lehre des Architekten Gottfried Semper aktueller denn je
    von Dankwart Guratzsch



    Der Architekt Gottfried Semper schuf mit der Semperoper in Dresden sein bedeutendstes Werk
    Foto: dpa
    Im Eingang der 4. Grundschule am Rosengarten in Dresden-Neustadt stehen Eltern und Schüler dicht gedrängt. Schulleiterin Margitta Klapper sagt: "Das ist für uns ein besonderer Tag." An den Wänden hängen Schautafeln mit Fotos und Texten. Sie zeigen eine feine Villa: Terrasse, Rundbogenarkaden, karyatidengeschmückte Pfeiler. Das weiße Haus hoch über der Elbe, nach dem sich einst die Spaziergänger die Hälse reckten, gibt es nicht mehr. Es stand an gleicher Stelle, an der sich jetzt der Plattenbau der Schule erhebt.



    Diese Villa ist der Grund für die Feier, denn an diesem 29. November 2003 gedenkt die Stadt Dresden des 200. Geburtstages von Gottfried Semper. Er hat das Haus im palladianischen Stil für den Bankier Oppenheim als Sommerresidenz erbaut, und mitten unter den Kindern sitzt die Rentnerin Irmgard Müller, die es noch von innen gekannt hat und von der viele der Fotos stammen. "Die Schüler aller zwölf Klassen", erklärt die Schulleiterin, "haben an diesem Dokumentationszentrum mitgearbeitet. So wollen wir die Liebe zu unsrer Heimatstadt pflegen." Dann verteilt sie 60 Kerzen, und die kleine Prozession geht hinaus in den nachtfinstren Garten. Eine Bronzebüste und eine Gedenktafel werden enthüllt. Denn wenn die Villa auch "völlig aus dem Gedächtnis der Bevölkerung geschwunden ist", wie eine Kunsthistorikern einräumt, soll sie doch als Fatamorgana zurückgeholt, ja sogar nachgebaut" werden. Denn die Villa Rosa des 36 Jahre alten Semper ist der Prototyp der einst berühmten Villenbaukunst des "deutschen Florenz" (Herder) schlechthin. "Wir werden ihren Grundriss im Schulhof markieren. Dann könnt ihr selbst hinein ins Wohnzimmer und in die Küche und ins Schlafzimmer", verspricht ein untersetzter Herr mit Vollbart und heiserer Stimme. Es ist Klaus Tempel, der "Vater" der Dresdner Semper-Feiern 2003, der an diesem regennassen Tag schon viele Reden halten musste.



    Dass eines Architekten, der vor 124 Jahren gestorben ist, mit soviel Aufwand, soviel offizieller Ehrerbietung, aber auch soviel inniger Zuwendung gedacht wird, ist überraschend. Parallel zu Dresden feierte seine Geburtsstadt Hamburg ihren Sohn mit einer Ausstellung und einer Festveranstaltung, zeigen München und Zürich glanzvolle Werkschauen.



    Und doch ist Semper in keiner anderen Stadt so hymnisch und anhaltend gewürdigt und gepriesen worden wie jetzt in Dresden, wo er mit 31 Jahren seine Laufbahn begann und doch nur anderthalb Jahrzehnte tätig war. Seit Februar wurde mit zehn Semper-Akademien, drei Kabinettausstellungen, mit zwei großen wissenschaftlichen Kolloquien, mit Konzerten, Buchvorstellungen, Schüleraufführungen, der Übergabe einer Sonderbriefmarke und einer Sondermünze, mit Sonderführungen und einem Semper-Fest dem Mann gehuldigt, der der Stadt das einzige Opernhaus der Welt geschenkt hat, das den Namen seines Architekten trägt.



    Aber das ist es nicht allein, was Semper zum Helden einer Stadt macht, die der steckbrieflich gesuchte Barrikadenkämpfer von 1849 nicht im Frieden verlassen hat und in den ihn die Bürger doch zurückgeholt haben - "die erste deutsche Bürgerinitiative", so Oberbürgermeister Ingolf Roßberg.



    Erst jetzt, nach hundert Jahren Semper-Schmähung in Kunstwissenschaft und Architekturlehre, wird erkennbar: Semper, dieser vorwärtsstürmende, in modernen Gesellschaftsbegriffen denkende Geist, war der geborene Antipode des 20. Jahrhunderts und seiner Architektur- und Städtebaulehren, noch ehe es begonnen hatte.


    So wie bereits Schinkel vor der "rein radicalen Abstraktion" warnte, verwahrte sich Semper gegen die "Nacktheit" von Konstruktionen, gegen Schematismus und sture Rationalität im Bauen, gegen das Zerfließen der Städte und ihre Zerstörung durch immer breitere Straßen. Und er knüpfte an die Kunst die kühne Vision: "Je größer und reicher das öffentliche Leben zu werden verspricht, in gleichem Maße beschränkt sich das Privatbedürfnis."



    Könnte es sein, dass die Semper-Feiern von 2003 von einer neuen Sehnsucht nach solchen Idealen künden? Dass es wirklich so etwas wie ein neues Schmuckbedürfnis gibt, dass Ornamentierung, Symbolik, tieferer Sinn und Geschichtlichkeit in der Baukunst, die in der Dresdner Semper-Oper und ihrem Nachbarbau, der Semper-Galerie, Triumphe feiern, wieder gefragt sind? Kein Satz ist heute so "out" wie der des Propheten der Ausnüchterung, Adolf Loos: "Ornament ist Verbrechen."



    Vielleicht lehrt das Beispiel der Schule am Rosengarten, wie selbstverständlich die von Semper erhoffte Bildung der Geschmackskultur junge Menschen wieder begeistern kann. Und doch scheint diese Botschaft nicht bei allen angekommen zu sein: auf dem Semper-Kolloquium der Kunstwissenschaftler fehlten die Architekten. Die Dresdner Professoren, die an einer der größten Technischen Universitäten Deutschlands lehren, zeigten sich weder selbst interessiert noch hatten sie mehr als zehn ihrer Studenten für den großen Vorgänger begeistern können. Statt mit Blumen schmückten sie Sempers Denkmal mit einem Kranz.



    Die Welt, 3. Dez 2003

  • Natürlich kann man hier genauso von "spekulativ" reden, die Frage ist worin mehr Nachvollziehbarkeit und dadurch Glaubwürdigkeit enthalten ist. In Bernaus oder Guratzschs Beurteilung.

  • genauso schlecht wie manche architekten in deutschland ist "die welt". erbärmlicher journalismus ...
    eine gute zeitung (wie die neue züricher zeitung) schreibt folgendes:


    Wissenschaft und Kunst
    Gottfried Semper und die Moderne des 19. Jahrhunderts
    Semper galt und gilt als ein Mann der Geschichte. Als «Vertreter der historischen Richtung» verkörperte er das Feindbild der Moderne. Sie erkor sich Männer der Technik wie den ebenfalls vor 200 Jahren geborenen Joseph Paxton als Ahnherrn. Doch war Semper tatsächlich jener rückwärts gewandte Traditionalist, zu dem ihn die Avantgarde des 20. Jahrhunderts machte?


    Von Sonja Hildebrand


    «Wissenschaft und Kunst» bezeichnete im 19. Jahrhundert die beiden Hauptgebiete der Kultur. Das Begriffspaar besass Brisanz: in einer Zeit, als sich Geistes- und Naturwissenschaften zu trennen begannen, als Kunst und Technik zu unterschiedlichen Angelegenheiten wurden. Die Chancen, aber auch die Probleme dieser «modernen Welt» konnte sich Semper im Londoner Exil in den Jahren 1850 bis 1855, der existenziell schwierigsten Phase seines Lebens, besonders klar vor Augen führen. Und er reagierte mit aller Konsequenz: «Science shall be pervaded by Art and Art by Science», hiess für ihn das Losungswort. Heute, da man sich vom Modell der «zwei Kulturen» von Natur- und Geisteswissenschaften mehr und mehr verabschiedet und verstärkt die Gemeinsamkeiten über die «Grenzen» hinweg sucht, erscheint Sempers Umgang mit «Wissenschaft und Kunst» aktueller denn je.


    GESAMTBLICK
    Semper entwickelte nicht erst in London den offenen Blick auf die Gesamtheit der Wissenschaften und Künste. Im Gegenteil, sein Leben war von Beginn an durch Neugier und Mut zur Grenzüberschreitung geprägt. Auf das humanistische Johanneum in Hamburg folgte 1823 ein Studium der Mathematik und der Geschichte in Göttingen. 1826 wechselte Semper an die Architekturschule von Franz Christian Gau in Paris. Die Ausbildung komplettierte eine Studienreise, die ihn bis nach Griechenland führte. Mit den Mitteln der modernen, sich am empirischen Befund orientierenden Archäologie erforschte er die ursprüngliche Farbigkeit antiker Bauwerke. Seinen Bruder Wilhelm, Apotheker in Hamburg, liess er verwitterte Farbproben untersuchen. Sempers Erstlingsschrift «Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten» von 1834 trug ihm frühen Ruhm und eine Professur in Dresden ein. Die Analyse seines Bruders - den «chemischen Beweis» - druckte er noch 1860 im ersten Band des Werkes «Der Stil» ab.


    Es ging Semper aber um mehr als um eine solche technische Indienstnahme der Naturwissenschaften für die Kunst. Auch aus heutiger Sicht weitaus wichtiger war seine Art des Nachdenkens, das sich per Analogieschluss Denkmodelle aus anderen Disziplinen zunutze machte. Berühmt ist die Analogie, die Semper zwischen der Evolution und dem Gang der Kunstgeschichte herstellte. Während seines Studiums in Paris war die von Georges Cuvier im Pariser Jardin des Plantes zusammengetragene anatomische Sammlung für ihn zum Schlüsselerlebnis geworden. Dort finde man «die Typen für alle noch so komplizierten Formen des Tierreiches, man sieht, wie die Natur in ihrem Fortschreiten doch in ihren Fundamentalformen und Motiven äusserst sparsam und ökonomisch bleibt. (. . .) Sollten wir (. . .) durch Analogie schliessen dürfen, dass es sich (. . .) mit den Werken der Kunst ebenso verhalten möge? Wie die Werke der Natur, sind sie durch wenige Grundgedanken miteinander verknüpft, die ihren einfachsten Ausdruck in gewissen ursprünglichen Formen oder Typen haben.» - Er habe bereits «einiges Material zu einem zukünftigen Cuvier der Kunstwissenschaft» gesammelt, erklärte Semper seinen Studenten am Department of Practical Art, der Londoner Kunstgewerbeschule, an der er seit 1852 lehrte. Ziel sei eine «Erfindungsmethode, welche zur Erkenntnis des natürlichen Prozesses des Erfindens führen könnte». Dass den Produzenten von Kunst und Kunstgewerbe tatsächlich eine tragfähige Grundlage fehlte, war Semper durch die Londoner Weltausstellung von 1851 überdeutlich geworden. Schlaglichtartig hatte sie die Diskrepanz zwischen hoch entwickelten technischen und zurückgebliebenen künstlerischen Fähigkeiten beleuchtet. Es herrsche ein «Mangel an Vermögen», sich der durch die moderne Technik und Wissenschaft bereitgestellten Mittel «zu bemeistern», schrieb Semper 1852 in «Wissenschaft, Industrie und Kunst».


    TRADITION ALS KORREKTIV
    Semper war kein Gegner technischen Fortschritts. 1851 beispielsweise hatte er eine private Schule für das gemeinschaftliche Studium von Architekten und Ingenieuren geplant, um aus der «Überlegenheit der Engländer (. . .) was die Praxis und die Constructionen betrifft» Gewinn zu schlagen. Was Semper forderte, war ein reflektierter Umgang mit den technischen Möglichkeiten. Hier nun kam die Geschichte ins Spiel: Für Semper bildete die von der gesamten Gesellschaft getragene kulturelle Tradition das Korrektiv des technisch Machbaren: «So vom Bieneninstinkte des Volkes gleichsam vorher durchgeknetet, überkamen die einstigen Begründer blühender Kunst ihren Stoff.»


    Am Department of Practical Art fand Semper ein Umfeld, das seinen weit gespannten Interessen entsprach. 1853 wurde die Kunstgewerbeschule mit mehreren naturwissenschaftlichen Institutionen zum Department of Science and Art zusammengeschlossen. Ziel war eine engere Verzahnung von naturwissenschaftlich-technischer und künstlerischer Ausbildung. Das Department verfügte über eine öffentlich zugängliche Lehrsammlung. 1857 wurde sie Teil des seit 1851 geplanten South Kensington Museum, in das auch ein Patentmuseum, geologische und botanische Sammlungen, eine Sammlung tierischer Rohstoffe und ein Wirtschaftsmuseum integriert werden sollten und teilweise auch wurden. Der Komplex bildete den Ursprung des heutigen Victoria and Albert Museum, des National History Museum und des Science Museum.


    1855 zeichnete Semper für das geplante Kulturforum in South Kensington einen seiner spektakulärsten Entwürfe. Von Paxtons Kristallpalast inspiriert, schlug er eine Platzarchitektur aus Galeriebauten und einem offenen Konzertsaal vor, die von riesigen Glastonnen überdeckt werden sollte. War Semper also gar ein Glas-Eisen- Architekt? Dagegen spricht allerdings eine Entwurfsvariante mit verkleideter Eisenkonstruktion. Was ist von solchen «Widersprüchen» zu halten? Einen Schlüssel bietet jene Kritik, mit der Semper 1851 auf den Kristallpalast reagiert hatte. Das Potenzial der Glas-Eisen-Architektur lag für ihn in der möglichen Funktion als Klimaschutz. Dementsprechend würdigte er die Leistung von Paxton, der seine Aufgabe der Überdachung eines «Weltmarkt»-Platzes auf bestmögliche Weise gelöst habe. Allerdings monierte Semper die fehlende raumbildende Hülle und mit ihr die fehlende typologische Charakterisierung und kulturelle Verankerung der modernen Architektur. Seine Variante für South Kensington lässt sich als Versuch verstehen, die moderne Eisenkonstruktion in den Dienst einer weniger «primitiven», aus dem steinernen Monumentalbau entwickelten Typologie zu stellen.


    PROJEKTE FÜR ZÜRICH
    Sempers Entwürfe für South Kensington entstanden zu einer Zeit, als er bereits den Ruf an das neu gegründete Zürcher Polytechnikum angenommen hatte. Wenige Tage nachdem sie aus Kostengründen zurückgewiesen worden waren, übersiedelte Semper in die Schweiz. Dort vermisste er zwar bald die «grossartigeren Umgebungen» der englischen Metropole. Doch die Industrialisierung machte auch in der Schweiz schnelle Fortschritte, und Zürich stand Mitte des 19. Jahrhunderts am Beginn der «grossen Bauperiode». Ein Schlüsselprojekt war der Neubau des Hauptbahnhofs, für den Semper 1861 einen Wettbewerbsentwurf vorlegte. Der Entwurf zeigt, welcher Variante für das Londoner Kulturforum er den Vorzug gegeben hätte: Entgegen der Ausschreibung wollte Semper die Eisenkonstruktion über der Gleishalle nicht mit Glas ausfachen, sondern verkleiden. Als typologische Referenz diente die steinerne Thermenarchitektur Roms.


    Die Hauptfassade des Bahnhofs plante Semper auch als Gegenüber des Hauptgebäudes der ETH, in dem bis 1914 zudem die kantonale Universität untergebracht war. Er entwarf für die beiden Institutionen einen Palast der Wissenschaften und Künste, der das Miteinander der Disziplinen erfahrbar machte. Entgegen dem ursprünglichen Wunsch des Schulrats reservierte Semper für die natur- und technikwissenschaftlichen Sammlungen einen Trakt im selben Gebäudekomplex. Das Kernstück der vierflügligen Anlage bildete die Antikensammlung in einer West- und Ostflügel verbindenden Wandelhalle. Dort konnten die Studierenden aller Fakultäten in unmittelbarer Anschauung die kulturelle Tradition kennen lernen, in der Semper alle Fächer gleichermassen verwurzelt sehen wollte. Heute gibt es allen Grund, einmal wieder auf Semper zu sehen.