Schienenverkehr - allgemeine Diskussion

  • Infrastrukturkorridor Braunschweig - Wolfsburg - Uelzen - Hamburg

    Ich schreibe mir heute mal was von der Seele, was ich seit 8 Jahren mit mir rumschleppe. Bisher habe ich das nirgendwo geschrieben oder laut ausgesprochen, weil es mir immer ein bisschen zu abwegig vorkam. Seitdem sich aber die Landesregierung im Dezember für den Ausbau der Strecke Hamburg - Uelzen - Hannover ausgesprochen hat, sind die Chancen eventuell ein kleines bisschen realistischer geworden.

    Ich finde es im Alltag immer wieder sehr belastend, wie schlecht die Bahnanbindung vom Braunschweiger Land Richtung Norden ist. In die Strecke über Gliesmarode und Gifhorn ist zwar in den letzten Jahren einiges investiert worden (und wird auch noch weiter, siehe Teds Beitrag im Infrastruktur-Thread kürzlich), aber das reicht nicht, um Großstädte wie Hamburg und Braunschweig adäquat miteinander zu verbinden. Aktuell braucht man mit dem Fernverkehr über Hannover 2:16 h aufwärts, mit Bummelzügen über Gifhorn sind es 2:51 h. Für die Kürze der Distanz kann es das eigentlich nicht sein.
    Mindestens genauso gravierend ist der Umstand, dass auch von Wolfsburg und vom VW-Werk aus keine Anbindung Richtung Hamburger Hafen und zu den vielen kleinen Städten und Dörfern in Nordost-Niedersachsen besteht, wo sicherlich ein nicht unerheblicher Anteil der VW-Belegschaft wohnt.

    Anbindung der näheren Umgebung


    Dass die Region nördlich von Wolfsburg besser angebunden werden soll, steht schon seit vielen Jahren fest und wird durch den bevorstehenden Baubeginn der A39 auch immer konkreter. Aber können wir uns das heutzutage wirklich leisten, eine Infrastrukturtrasse ausschließlich für Kfz-Verkehr zu planen und die Bahn so völlig außen vor zu lassen? Insbesondere die Innenstädte werden in den nächsten Jahren nicht unbedingt besser mit dem Auto erreichbar. Doch je weiter die Verkehrswende (sinnvollerweise) voranschreitet, desto mehr gucken die Menschen in die Röhre, die strukturell auf das Auto angewiesen sind, weil sie von zu Hause aus anders nicht wegkommen. Mit dem ausschließlichen Bau der Autobahn zementieren wir diesen Zustand jedoch weiter, es sei denn wir nutzen diese Chance und planen in Parallellage eine Neubaustrecke, die die Ausbaustrecke über Hannover ergänzt.


    Neue Inspiration dazu hat mir auch die Neubaustrecke zwischen Stuttgart und Ulm parallel zur A8 gegeben. Insbesondere der Regionalverkehrsbahnhof Merklingen wird sehr gut von den Menschen in der Region angenommen. Seit Inbetriebnahme verkehrt dort ein Regionalexpress mit 200 km/h zwischen Ulm und Stuttgart, der erhebliche Anteile des Pendlerverkehrs von der schwäbischen Alb aufnimmt. Selbst wenn die Neubautrasse an der A39 für 300 km/h ausgelegt werden sollte, müsste es auch bei uns möglich sein, einen schnellen Nahverkehr zu integrieren, der die Pendlerströme zu VW, nach Braunschweig und Hamburg aufnehmen kann. Halten könnte dieser schnelle Regionalexpress beispielsweise in Wittingen und Ehra-Lessien.

    Dieses Angebot sollte nicht dazu führen, dass die RB-Linie über Gifhorn wegfällt. Ich glaube aber, dass die Verkehre gar nicht allzu sehr in Konkurrenz zueinander stehen würden. Für die aktuell angebundenen Dörfer wird die Regionalbahn weiterhin die kürzere Verbindung Richtung Norden und Süden darstellen. Für alle Orte weiter östlich (und alle Menschen, die mit dem Deutschlandticket direkt zwischen den großen Städten unterwegs sind) wäre eine schnellere Alternative jedoch ein großer Gewinn.


    Um die Neubaustrecke auch von Gifhorn aus erreichbar zu machen, wäre ein Umstieg in Fallersleben sinnvoll (was im Übrigen gleichzeitig das Werk zufriedenstellend anbinden würde). Die räumliche Situation dafür wäre optimal: Westlich zweigt die Weddeler Schleife Richtung Süden ab, direkt östlich könnte der Abzweig Richtung Norden auf die Neubaustrecke entlang der Autobahn erfolgen.


    Anbindung im größeren Kontext


    Zusätzlich bekäme Braunschweig endlich eine schnelle, direkte Fernverkehrsanbindung nach Hamburg und perspektivisch von dort aus auch weiter Richtung Kopenhagen und Skandinavien, was sowohl für den Personen- als auch den Güterverkehr sinnvoll wäre und den Knoten Hannover entlasten würde.


    Das Gros der ICEs zwischen Hamburg und Süddeutschland müsste weiterhin über Hannover verkehren, allein schon, weil man dort sonst wahrscheinlich Schnappatmung bekommen würde. Ehrlich gesagt ist es natürlich auch sinnvoll, dass die größere Stadt den größeren Anteil an Zügen bekommt.

    Nichts desto weniger wäre Braunschweig mitsamt allen umliegenden Städten und Gemeinden locker groß genug, um sich eine eigene Anbindung Richtung Norden zu verdienen.

    Wenn man bspw. jeden vierten ICE über Lüneburg, Uelzen, Braunschweig, Fallersleben und Hildesheim führen würde (mit wechselnden Halten, sodass man nicht alle 15 Minuten anhält), hätte man damit wahrscheinlich effektiv sogar mehr Menschen angebunden als es mit einem Halt in Hannover der Fall wäre. Die Fahrtzeit wäre vermutlich ähnlich wie über Hannover. Und wenn man perspektivisch entweder die Strecke über Hildesheim noch mal etwas beschleunigen würde oder alternativ eine direkte Verbindung von Braunschweig Richtung Göttingen herstellen würde, wäre diese Trasse sogar vermutlich kürzer als der Zickzack-Kurs Hamburg - Uelzen- Hannover - Göttingen.


    Selbst gesetzt den Fall, dass es letztlich irgendwann doch auf eine zweite Neubaustrecke Hannover - Hamburg entlang der A7 hinauslaufen sollte (woraufhin die Anbindung über Braunschweig für die Leute in Lüneburg und Uelzen umso wichtiger wäre, um im Fernverkehrsnetz zu bleiben) oder ob es bei der Ausbaustrecke über Celle bleibt (was die Strecke über Braunschweig von der Distanz her weiter konkurrenzfähig bis sogar leicht im Vorteil halten würde), so oder so ergibt diese Anbindung Sinn. Der europäische Korridor Skandinavien - Mittelmeer würde viel belastbarer und flexibler im Hamburger Hinterland, man würde etwa eine halbe Million Menschen um Längen besser anbinden und Hannover müsste nicht mehr sämtliche Güterverkehre schlucken, die aus der wirtschaftsstarken Braunschweiger Region Richtung Norden führen.


    Darüber hinaus würde sich auch die Anbindung aus Magdeburg, Halle, Erfurt und der gesamten mitteldeutschen Region Richtung Norden massiv verbessern, weil man nicht mehr auf den Umweg über Berlin oder Hannover angewiesen wäre.


    Die Voraussetzungen wären aktuell optimal


    Da die Trasse bis Uelzen sowieso schon für den Fernverkehr ausgebaut ist, perspektivisch weiter ausgebaut wird, und die Weddeler Schleife gerade zweigleisig fertiggestellt wird, sind die Anbindungen nördlich und südlich vorhanden und belastbar. Fraglich wären also hauptsächlich das Stück der Neubaustrecke zwischen Wolfsburg und Wittingen entlang der zu bauenden Autobahn und das auszubauende Teilstück zwischen Wittingen und Uelzen.


    Die Strecke zwischen Wittingen und Wolfsburg wäre nach meinen rudimentären Google-Maps-Messungen ungefähr 36 km lang. Das ist natürlich schon ein Stück, aber eigentlich auch nicht überwältigend viel. Man könnte entlang der Autobahn ziemlich gerade bauen und könnte aufgrund der einfachen Topographie wahrscheinlich komplett auf Tunnel verzichten. Wenn man es klug angeht, wäre wahrscheinlich sogar eine Fahrtzeit von einer Stunde zwischen Hamburg und Braunschweig im Rahmen des Deutschlandtakts machbar. In Braunschweig könnte dann Anschluss Richtung Magdeburg / Halle / Leipzig hergestellt werden, was die Fahrtzeit in diese Region drastisch verkürzen würde. Und gleichzeitig hätte Braunschweig auch wieder eine direkte Verbindung Richtung Süden (die aktuell nur mit Umstieg in Göttingen / Kassel / Fulda besteht), wenn Züge der Relation Hamburg - München über Braunschweig fahren.


    Die Bündelung mit der A39 wäre aus meiner Sicht eine einmalige Chance, die sich aktuell so nirgendwo sonst in Deutschland ergibt und die die Braunschweiger Region noch mal extrem nach vorne katapultieren könnte. Wenn man es klug macht, nicht zum Nachteil von Hannover, sondern in Ergänzung der dortigen Bedürfnisse.


    Die nächsten Schritte?

    Mir ist bewusst, dass es trotz der vielen Vorteile wahrscheinlich extrem schwer ist, so eine Idee politisch mehrheitsfähig zu bekommen, weil der Braunschweiger Region - zumindest gefühlt - sowohl in Hannover als auch Berlin die Lobby fehlt. Sicherlich gibt es andernorts auch Projekte, die noch drigender sind (bspw. hat Chemnitz nach wie vor überhaupt keine Fernverkehrsanbindung).
    Außerdem ist natürlich das große Manko, dass so eine Trasse potenziell den Autobahnbau noch mal um ein paar Jahre verzögern könnte und die Menschen laut Forsa-Umfrage (siehe Links unten) sehnlich auf den Anschluss warten. Auf der anderen Seite ist die Chance irgendwie zu gut um sie zu verpassen.

    Deswegen habe ich mir jetzt endlich mal den Ruck gegeben und das hier alles aufgeschrieben. Was meint ihr dazu? Ist so eine Trasse sinnvoll? Ist sie nötig? Was müsste man tun, um diese Idee auf die politische Landkarte zu bekommen? Wie würden die betroffenen Leute vor Ort (also vor allem zwischen Wolfsburg und Uelzen) reagieren? Kommt von euch vielleicht sogar jemand selbst aus der Region?

    Danke, dass ihr bis hierhin gelesen habt :) Vielleicht entsteht daraus ja so ein bisschen was ähnliches wie 2013 mit dem Ausbau der Straßenbahn. Ich glaube, die Diskussion zwischen Ted und Dvorak damals ist der Grund, warum ich hier hängen geblieben und irgendwann auch aktiv geworden bin.

    Nützliche Links

    Trassierung der A39 im Detail mit aktuellen Planungsstadien

    Artikel zur aktuellen Anbindungssituation in der Region vom letzten September (AZ-online)

    Website der Bahn zum Ausbau zwischen Hannover und Hamburg

  • PS:


    Meine Träume reichen noch ein bisschen weiter: Eigentlich hatte ich mir mal vorgestellt, dass die Strecke über Braunschweig perspektivisch auch dazu dienen könnte, die Verkehre zwischen Hamburg und München gleichmäßiger zwischen der SFS über Kassel und Würzburg und der parallel verlaufenden, neu gebauten Strecke über Erfurt und Nürnberg aufzuteilen. Um das zu erreichen, müsste man von Braunschweig aus über Seesen am südwestlichen Harzrand eine weitere Neubaustrecke über Nordhausen nach Erfurt bauen. Diese könnte gleichzeitig wiederum ungefähr bei Seesen auch noch den oben schon beschriebenen Abzweig nach Göttingen bekommen, was den Knick über Hildesheim einsparen würde. Gleichzeitig sollte dann von Seesen aber auch noch die Anbindung von Erfurt nach Hannover über Hildesheim gebaut werden. Mit einer solchen x-Trasse (wenn sich in Seesen dann die Relationen Braunschweig - Göttingen und Erfurt - Hannover kreuzen, wobei man wie gesagt auch Braunschweig Erfurt fahren könnte) wäre man wirklich ultra flexibel auf dem wichtigen Nord-Süd-Korridor. Dadurch dürfte sich auch die Fahrtzeit zwischen Hamburg und München noch mal erheblich verringern, wenn man statt über Berlin oder Kassel direkt über Braunschweig und Erfurt fahren kann.


    Das wäre allerdings (vor allem finanziell) noch mal eine ganz andere Dimension. Außerdem weiß ich auch nicht, wie gut der Südwestharz landschaftlich solch eine Trasse vertragen würde. Vermutlich eher nicht so gut, wäre meine Befürchtung.


    PPS: Wenn die Lounge nicht der richtige Thread ist und das Thema besser woanders aufgehoben ist, gerne verschieben.

  • Das ist sehr interessant und passt gut hierhin.

    Auch ich habe seit Jahren die Verbindung Richtung Norden bemängelt.


    Geringe Verbesserungen gibt es:

    Z.B. die Schleife oder die Heideautobahn mittelfristig zwischen BS und HH bzw. Wob und LG.


    Hamburg könnte also mit dem Auto von BS in 1,5 -1,45 erreicht werden.


    Das wird natürlich ein riesen Vorteil sein gegenüber dem Schienenverkehr.

    Und da muss man jetzt ansetzen und das schreibt auch Loewe!

  • Als jemand, der seit anderthalb Jahrzehnten immer wieder von Hamburg nach Braunschweig und zurück fährt, stimme ich dir uneingeschränkt zu. Die gegenwärtige Bahnverbindung ist suboptimal. Die Züge via Uelzen und Gifhorn sind zu langsam, die Verbindung über Hannover umständlich. Eine Ausbau- bzw. Neubaustrecke in der östlichen Heide, etwa parallel zur A39, wäre ideal. Anders als von dir skizziert, würde es jedoch m. E. mehr Sinn ergeben, die Verbindung nicht nur über Fallersleben, sondern gleich auch über Wolfsburg und von dort weiter, an Rühen und Boitzenhagen vorbei, bis Wittingen zu führen. Das würde das Fahrgastpotenzial doch deutlich steigern. Ich habe das nachfolgend einmal skizziert.


    Bahnverbindung.jpg


    (Bild mit OpenStreetMap erstellt)


    In einem solchen Fall könnten in der Tat einzelne ICEs und Regionalbahnen von Hamburg aus über Uelzen und Wolfsburg direkt nach Braunschweig und von dort z. B. über Wolfenbüttel und/oder Salzgitter an den nördlichen oder westlichen Harzrand verkehren.


    Da zu befürchten ist, dass für eine solche Baumaßnahme kurz- bis mittelfristig keine politischen Mehrheiten bzw. Gelder zu erwarten sind, käme aus meiner Sicht noch als "kleine Lösung" eine Verbindung zwischen Hamburg und Braunschweig via Celle und Lehrte in Betracht. Die ließe sich im Grunde sofort umsetzen, wären die Nord-Süd-Verbindung zwischen Hamburg und Hannover und der Bahnknoten Hamburg nicht ohnehin schon an der Belastungsgrenze.


    Eine Verbesserung der Südanbindung ist in der Tat ein anderes Kapitel. Dort liegt nun einmal der Harz im Weg und durch die Strecke über Hildesheim besteht bereits eine gute ICE-Anbindung. Hier könnte ich mir jedoch noch eine bessere Verbindung zwischen Braunschweig und Halberstadt vorstellen, die es darüber hinaus ermöglichen könnte, Züge bis nach Halle oder Leipzig durchzubinden.


    Übrigens: Um die Südanbindung Braunschweigs zu verbessern, gab es kurz vor dem Ersten Weltkrieg und später noch einmal in der Nazi-Zeit die Idee, einen Harz-Basistunnel zu errichten, nachzulesen in: W. Dörner, Die Südharz-Eisenbahn, S. 324.

  • Die Partei hat einen Entwurf in den Braunschweiger Rat eingebracht. Entsprechend der japanischen Shinkansen soll auf mehrspurigen Ringtrassen um den Stadtkern eine Hochgeschwindigkeitsstrecke für Züge entstehen.


    Quelle: BZ

  • Die PARTEI ist eine Satire-Gruppe, die aus dem Magazin Titanic hervorging. Absurde Ideen sind ihr Programm. Der Spitzenkandidat heißt Dominic Harapat; er trägt auf Plakaten einen Bierhelm und raucht zwei (!) Zigaretten. Also: Bitte nicht ernstnehmen, niemand will das umsetzen... ;)


    (Funfact: Trotz des Satirecharakters hat die PARTEI zwei Sitze im Europaparlament – besetzt mit dem Satiriker Martin Sonneborn und der Schriftstellerin Sybille Berg.)

  • Nichtsdestotrotz benötigt Braunschweig eine viel schnellere und durchgängige Bahnverbindung nach Hamburg.


    Die Celle Strecke ist interessant, denn dann könnte zeitgleich auch eine direkte Verbindung zum Hannover Flughafen geschaffen werden.

    Warum müssen Braunschweiger über 1,5 Stunden momentan dorthin trudeln, wenn es mit dem PKW gerade mal 40 Minuten sind?

  • Die Celle Strecke ist interessant, denn dann könnte zeitgleich auch eine direkte Verbindung zum Hannover Flughafen geschaffen werden.

    Eine umsteigefreie Anbindung von Braunschweig an den Tiefbahnhof vom Flughafen Langenhagen wäre sicher eine sehr sinnvolle Sache. Eine Anbindung auf direktem Weg, über Peine und Lehrte, dürfte aber nicht ohne weiteres möglich sein, da zwischen H-Hauptbahnhof und H-Leinhausen ein entsprechendes Überwerfungsbauwerk fehlt. Und ein solches zu bauen wäre, auf diesem extrem stark ausgelasteten Schienenabschnitt, sicher eine enorme logistische Herausforderung. So enden denn auch alle von Osten kommenden S-Bahnen im Hauptbahnhof.

    Grund für die fehlende Infrastruktur ist sicherlich auch die ewige (sinnlose) Rivalität zwischen den beiden Städten.

    Stattdessen gibt es von Langenhagen eine Anbindung nach Paderborn. Vermutlich um dem dortigen Regionalflughafen Paderborn-Lippstadt das Wasser abzugraben.