Autofreie Friedrichstraße und Fußgängerzonen: Pro und Contra

  • ... komisch, in Paris ist es genau das was alle so lieben, besonders die Touristen. auf knappen Gehwegen an ultrakleinen Tischchen mitten im Fussgänger- und Autoverkehr sitzen....

    Da wo die Touristen gerne in Paris sind gibt es keinen Autoverkehr. Klar man macht mal ein Foto vom Champs-Elysees, aber dann geht man auch wieder in einer der unzähligen kleinen Straße mit maximal einer engen Straße mit ausschließlich Anliegerverkehr, wie z.B. in Montmartre.

  • Sorry, aber das ist doch jetzt kompletter Unsinn. Ist es nicht viel eher infantil, Geschäftsstraßen wie die Friedrichstraße aber auch andere genannte Beispiele wie die Karl-Marx-Straße mit Protzkarren rauf und runter zu kutschieren...

    Leider hat ein eifriger Moderator meinen aus seiner Sicht "nicht hilfreichen" Kommentar gleich wieder verschoben.

    Ich habe in meinem Kommentar nicht geschrieben, das ich mit "Protzkarren rauf und runter kutschieren" will. Allerdings schätze ich den Charakter der Friedrichstraße anders ein als Du. Die Straße wurde in den 90ern überhaupt wieder als Zentrumsstraße aka Geschäftsstraße wieder-erfunden. Mit Mängeln, ja. Aber das Quartier 206 (hoffentlich passiert hier bald mal was), 207, Lafayette, Dussmann etc. sind allerdings doch Ankerpunkte, die die Straße für mich seit Jahrzehnten definieren.

    Camondos Wehklage über den verloren gegangenen Charakter der Straße verstehe ich, jedoch sehe ich auch, dass hier etwas neues entstanden ist. Allerdings sind die Wurzeln die die Straße in den Berliner Boden geschlagen hat seit der Wende noch nicht sehr tief. Hier hat der Autoverkehr vor allem in dieser Phase schon seine Logik. Zudem ist auch abzuwarten wie sich die Menschenströme durch die neue U5 noch weiter in diese Straße (und von dort irgendwann in Richtung Leipziger Platz) entwickeln werden.

    Und hier ist meine Wut am Senat. Lasst doch diese Straße einfach mal so wie sie ist. Sie wurde vor 25 Jahre so hergerichtet, jetzt ist auch die U-Bahn U5 noch da, also bitte lasst das Pflänzchen doch sich entwickeln und spart euch eure (aus meiner Sicht) albernen und infantilen Experimente.

    Was soll so ein Straßenraum eigentlich sein, der irgendwas mit lustig und Unterhaltung macht? Läuft der nicht auch Gefahr irgendwie oder irgendwann (Teil-)privatisiert zu werden? Wo doch gerade die Nachwendelogik der Straße aus dem Inneren der Gebäude heraus die Straße definiert (muss man erstmal geistig vor Ort verstehen). Zudem was soll so ein Straßenraum sein, der uns in bunten Farben präsentiert wird, wobei der Berliner Himmel das Mausgrau überwiegend als Deckweiß verwendet? Oder wird es am Ende sowas die dieser Boulevard der Stars, noch peinlicher gehts dann doch nicht, oder?


    Und zum Thema Auto. Dies ist wie so vieles in einem Land in dem die Gefallssucht oberste Bürgerpflicht ist ein Mythenmärchen. Wo verschwinden denn alleine nur in Berlin die Autos? Was wird denn in Zukunft mit jenen Radfahrern sein, die mit Bandscheibe, Dritthüfte und knackenden Knien mit dem Komfort eines fahrenden Wohnzimmers liebäugeln. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß und nicht 100% so oder 0 % so.

    Und wo ist denn ein erkennbares Konzept des grünen Verkehrssenats festzustellen? Kein Straßenrückbau, nirgendwo. Aber das Teilstück der Friedrichstraße machen wir zum Exerzierfeld für Experimente. Experimente kann man machen, dann aber bitte an einem anderen Ort.

    Und wenn man schon Geld ausgeben will für (aus meiner Sicht) primitivste Bespaßung, dann gestaltet doch mal die unzähligen vernachlässigten Plätze oder Straßenräume in Berlin für die nie Geld da ist (z. B. Strausberger Platz löst sich langsam in seine Einzelteile auf, südliche Frankfurter Allee, Holzmarktstraße auch nach Umgestaltung einfach nur traurig und das mitten in der Innestadt, etc. etc. etc.).

  • ^^


    .". kein Mensch redet von Champs-Elysees. Schonmal im Marais 3ême u. 4 ême oder zur lauschigen happy hour im 2ême Arr. gewesen? Hunderte kleine Cafés und Bars und alles spielt sich auf dem Trottoir ab. Teilweise müssen die Barbesitzer Personal zum aufpassen abstellen, damit die Gäste nicht vom Bordstein auf die befahrene Strasse fallen und damit Passanten überhaupt durchkommen. Das lebt ungemein und macht Spass.

    Einmal editiert, zuletzt von Camondo ()

  • Ich habe selbst in Paris gelebt, der Reiz ist meiner Meinung nach doch sehr die Kombination: Belebte, rauschende Strassen, und wer möchte geht in die kleine Querstraße und findet sich plötzlich auf einem wunderschönen von Cafes gesäumten stadtplatz ohne verkehr wieder. Es gibt dort eben alles. Paris war Hauptstadt der zivilisierten Welt und ist unzerstört geblieben, das sieht man eben und da kann Berlin nicht mithalten. Berlin ist toll aber unfertig, das Potenzial auf andere Art mit London und Paris mitzuhalten kann man nicht absprechen. Aber so mit dem kopf-durch-die-wand aktionen wie an der Friedrichstraße tragen dazu ganz sicher nicht bei. Ich könnte K-1 nicht deutlicher zustimmen!

    Einen Gedankengang der mir immer wieder in den Kopf kommt habe ich noch nie irgendwo offiziell reflektiert gehört: Was bekämpfen "wir" (=anti-auto fraktion) hier eigentlich wenn wir davon ausgehen dürfen dass in spätestens 10-15 Jahren Autos nicht mehr stinken, erheblich leiser sind, durch beste Sensorik menschliches Risiko für Unfälle erheblich minimiert ist und Autos unter Umständen sogar selbst fahren können? Das Auto der möglichst Autofreien Zukunft gegen das hier mobil gemacht wird hat mit der selben so gut wie nichts gemeinsam außer dem Platzbedarf. Tatsächlich fallen viele der Anti-Auto Argumente auf absehbare Zeit größtenteils weg und es kommen erhebliche Vorteile hinzu. Es wäre eventuell angebracht sich deutlich mehr mit Unterirdischem Parken, drop-off Zonen, und anderen Zukunftszugewandten Ideen zu beschäftigen??

  • Die Abwehrhaltung gegen den Verkehr auf den Straßen schließt ja zudem auch immer Lieferverkehr mit ein, der oftmals auch individuell von statten geht. Zum einen fördert und fordert man die vollständige Digitalisierung von allem und jedem (ist das eigentlich ein Naturgesetz?) zum anderen beklagt man dann die Lieferwege, die halt überwiegend motorisiert zum Endkunden kommen. Ein großzügiger Bahn-Ausbau: Fehlanzeige! Nur ein mürrischer Verweis auf ein Lastenrad und auf die Bahn, deren Reisezeiten sich seit Jahrzehnten nicht wesentlich verringert hat. Ich weiß gleich schreien wieder die Ersten, dass alles so super ist…


    Nur um zu verstehen musst du etwas tiefer einsteigen. Mag unser Land mal der zivilisierten Welt angehört haben, so gehören wir heute zur ideologisierten Welt. Parolen haben Argumente ersetzt. Der Fortschritt der uns so vieles ermöglicht hat ist zum Feind erkoren worden und deshalb stürzen wir Stück für Stück ab in eine Mangelgesellschaft („brauchen wir das wirklich?“). Der Ausstieg aus der Kernenergie hätte nicht auch gleich zum Ausstieg aus der Kernforschung führen müssen, etc. etc. etc.


    So einer wie Helmut Jahn ist doch zum richtigen Zeitpunkt gestorben, er blieb der These des Fortschritts durch Technologie treu. Das Sony-Center als eine heitere romantische Hommage an den Fortschritt – Ich liebe es! Wobei ich nicht von einem blinden Fortschrittsglauben rede. Aber Emanzipation kam mit dem Fortschritt (nicht nur technisch), nicht durch die ach so tollen Regierungen.

    Es ist wie mit der Loveparade, „rettet den Tiergarten“ hat den ganzen Spaß kaputt gemacht, weil angeblich der Tiergarten darunter litt – das Ende kennen wir. Und hier ist die Krux. Es wird in kirchlichem Duktus die Moral als Grund warum dies oder jenes nicht (mehr) geht vorgehalten. Aber im Grund möchte oder erschafft man dadurch einfach nur eine graue, freudlose, verängstigte und duckmäuserische Gesellschaft. Der wahre Feind ist im Grund der Mensch selbst, dessen Lebhaftigkeit für viele lieber in maschineller Berechenbarkeit zu ertragen ist. Denn auch wenn er auf das Fahrrad umgestiegen ist wird man neue Gründe finden, warum er nun zum Beispiel ein Nummernschild braucht, warum er nun auch Steuern zahlen müsse oder braucht man wirklich ein Mountainbike, reicht nicht ein „Einheitsklapperrad für Alle“?


    Um beim Fahrradverkehr zu bleiben. Fortschritt wäre es, wenn Berlin flächendeckend Fahrradwege hätte. Ist nicht der Fall und wenn sind diese zum großen Teil in einem erbärmlichen Zustand. Und hier entzündet sich dann meine Wut und Schreiblust, wenn mir ununterbrochen irgendwelche Modeprojekte hier und dort in bunten Bildern präsentiert werden, das Ganze aber darunter leidet.


    P.S. Schnell lesen, wird sicher eh gleich wieder von den "Moderatoren" gelöscht :)

  • Ich bin mir unsicher, was die Friedrichstraße betrifft. Eigentlich finde ich FuZos auch provinziell, aber die alte Nutzung hat halt nicht funktioniert. Die von Camondo evozierten Paris-Vergleiche passen nach Charlottenburg, in die Gegend um den Ku'damm oder den Savigny-Platz. Auch der Boxhagener Platz oder die Plätze in Prenzlauer Berg passen, und dort würde aus gutem Grund niemand eine FuZo einrichten wollen.


    Die Friedrichstraße aber sollte ja eigentlich eine Berliner 5th Avenue werden: Luxus-Shopping in einer engen, dichtbebauten Straßenschlucht (nur ohne Hochhäuser). Keine Cafés, kein Grün, nur Autos und Passanten. Das lief aber nie so recht – wie hier schon mehrfach gezeigt, war das Ergebnis im Abschnitt südlich der Linden mau. Die Fußgänger blieben aus, die Geschäfte waren schon lange vor dem Pilotprojekt auf dem Rückzug. Nur deshalb kam ja die Idee der Verkehrsberuhigung auf: Das in den 90ern entwickelte Konzept war gescheitert.


    Der vorliegende Entwurf der Senatsverwaltung überzeugt mich trotzdem nicht. Irgendwie piefig. Breitere Bürgersteige, keine Parkplätze, Fahrspuren für Taxis und Fahrräder – das würde mir eher gefallen. Oder, wie larselino vorschlug, was mit Wasser. Komplett grün fände ich nicht überzeugend, aber einen kleinen Kanal mit Brücken in der Straßenmitte – das hätte was (auch wenn es wegen der U-Bahntrasse schwer umzusetzen ist).

    Parolen haben Argumente ersetzt.

    Dafür sind Sie das beste Beispiel. Ein Rundumschlag nach dem nächsten. Immer irgendwas zum Anlass nehmen, um ganz schnell vom Konkreten ins Abstrakte zu kommen und die großen Keulen rauszuholen: Der künftige Straßenquerschnitt in der Schönhauser soll die Stadt verdorfen – Ideologie! Die künftige FuZo in der Friedrichstraße dient einer "duckmäuserischen Gesellschaft" - Ideologie! Wer Ihnen widerspricht, "schreit" natürlich. Und Ihre Gegner kleiden Sie ins unpersönliche "man", um eine Generaltendenz behaupten zu können, wo in Wahrheit zahlreiche Akteure handeln, die zum Teil völlig entgegengesetzte Positionen vertreten: Das "man", das in Berlin weniger Autos will, ist z.B. ein anderes als das "man", das auf Bundesebene die Bahn ruiniert hat. Und von "Moral" spricht bezüglich der Friedrichstraße niemand.

    Es ist wie mit der Loveparade, „rettet den Tiergarten“ hat den ganzen Spaß kaputt gemacht, weil angeblich der Tiergarten darunter litt

    Das Leiden des Planeten unter der "Lebhaftigkeit" des Menschen im Kapitalozän ist in Ihren Augen vermutlich auch nur ein "angebliches". Jeder Beleg für Klimawandel, Artensterben & Co. ist Moral, also – Ideologie! Man kann es sich anscheinend sehr einfach machen mit seinem Weltbild (und gleichzeitig ein Selbstbild als großer Kritiker pflegen).

    Einmal editiert, zuletzt von Architektenkind () aus folgendem Grund: Tippfehler korrigiert.

  • Die Loveparade Berlin wurde im Übrigen aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten abgesagt. Die Aberkennung als politische Demonstration tat ihr Übriges.

    Ich würde mal sagen, K1 hat keine Ahnung und kocht sein eigenes politisches Süppchen, dabei wirft anderen ständig ideologisches Handeln vor. Er selbst ist natürlich völlig frei davon. Durchschaubar.

  • Finanzierungsschwierigkeiten entstehen, wenn die Auflagen immer schärfer werden. Siehe Biermeile.

    Das ist eine klassische passive politische Art unerwünschte Veranstaltungen und sogar Demos zu zerstören.

  • ^ Inwiefern wurde die Biermeile als "unerwünschte Veranstaltung" durch "schärfere Auflagen" zerstört? Durch die Auflagen, die Grünanlagen nach der Abnutzung durch die zahlreichen Kunde der größtenteils industriellen Brauereien auf einer profitorientierten Veranstaltung wieder in den Vorherzustand zu versetzen? Das war schon bei der Absage 2020 als Ausrede zu erkennen.

  • Die Friedrichstraße aber sollte ja eigentlich eine Berliner 5th Avenue werden: Luxus-Shopping in einer engen, dichtbebauten Straßenschlucht (nur ohne Hochhäuser). Keine Cafés, kein Grün, nur Autos und Passanten. Das lief aber nie so recht – wie hier schon mehrfach gezeigt, war das Ergebnis im Abschnitt südlich der Linden mau. Die Fußgänger blieben aus, die Geschäfte waren schon lange vor dem Pilotprojekt auf dem Rückzug. Nur deshalb kam ja die Idee der Verkehrsberuhigung auf: Das in den 90ern entwickelte Konzept war gescheitert.

    Das ist eine Legende, die gerne erzählt wird.


    Die Friedrichstraße war von Anfang an das Feindbild mancher Architekten und selbsternannter Stadtgrößen. Vor allem solcher die gerne das Prädikat "Links" und "irgendwas gegen Luxus" glauben für sich zu beanspruchen hegen und hegten einen Grundhass auf diese Straße. Aber auch Geschäftsleute vom Kudamm und um die City-West wurden nicht müde die mögliche Konkurrenz in der Mitte klein und vor allem schlecht zu reden. Das Image wurde von vorne herein bewusst etwas in Moll toniert.

    Mögen Geschäfte nicht immer glatt gelaufen sein (wie im Beispiel Quartier 206 sehr unterschiedliche und vor allem rechtliche Gründe) so war die Straße ab 2010 der Bürohotspot mit den größten Mietsteigerungen in der Hauptstadt. Die Kolonnaden ab Dussmann bis VW waren immer gut besucht und sind dies bis heute.

    Der U-Bahn-Bau, der die Straße lange Zeit abschnitt behinderte nicht nur die Besuchsströme in und durch die Straße. Aber dies ist nun vorbei. Es wird bei Ihrer Erzählung völlig ausgeklammert, dass jedem in der Straße klar war, dass der U-Bahn-Bau eine starke Belastung darstellen wird. Anfang der 2000ern tobten viele Geschäftsleute gegen den damals projektierten U5-Bau.


    Lasst sie doch einfach entwickeln. Die 5th Avenue entstand auch nicht nur in 20 Jahren. Zudem empfand ich die Pflasterung, die Bordsteine, die Laternen (die Senatsverwaltung hat hier einen ganzen Katalog zur Friedrichstadt auf Ihrer Seite) immer sehr würdevoll. Das was jetzt kommen soll kann ich nur als Witz bezeichnen. Aber das war von Anfang an das Grundproblem der "neuen Mitte" Berlins ob Potsdamer, Friedrichstraße oder Leipziger, alles wurde schlecht geredet bis man es glaubte, obwohl man einfach etwas Zeit lassen musste.

  • Lieber Mitforist, ich hoffe sie haben Verständnis dass ich diesen Teil gesondert kommentiere (wenn der verschoben wird, bleibt zumindest der obere Kommentar zur Friedrichstraße stehen.

    Das Leiden des Planeten unter der "Lebhaftigkeit" des Menschen im Kapitalozän ist in Ihren Augen vermutlich auch nur ein "angebliches". Jeder Beleg für Klimawandel, Artensterben & Co. ist Moral, also – Ideologie! Man kann es sich anscheinend sehr einfach machen mit seinem Weltbild (und gleichzeitig ein Selbstbild als großer Kritiker pflegen).

    Genau das ist das was mir so Sorge bereitet, der Mensch als Feind, als Problemkind, das es zu beherrschen gilt. So im Kanon eines Hoimar von Ditfurth, früher des Pfarrers auf die sündigen Schäfchen von der Kanzel schreiend oder die vom König auf dem Stadtplatz verkündete Strafe für die zu frechen Untertanen. Genau dieses Antiaufklärerische der Gerechten oder Geläuterten, die im Weltbild des Klimawandels, Artensterbens oder was auch immer für eine Katastrophe die Opfer vor allem vom Nächsten erwarten. Deshalb Antiaufklärerisch weil das Fahrradfahrer-Prinzip hier durchschlägt. Der Minijobber soll seinen Billigflug vereitelt bekommen, die Herrschaften oben müssen selbstverständlich Up to dieser Welt sein.

    Das meinte ich mit einer um sich greifenden Freudlosigkeit und Opferhingabe, die immer mehr im Einheitsgrau ertrinkt, obwohl man sich bei allen Gelegenheiten das Prädikat "Bunt" auf den Armt malt. Was war Florenz vor den Untergangsideen eines Savonarola und was war es danach. Jaja die Untergangsideen waren damals direkt von Experte Gott bestätigt. Heute sitzt Herr Experte nicht mehr am Marktplatz sondern im TV und verkündet dort das immer drohende Weltenende.

  • Das ist eine Legende, die gerne erzählt wird.

    Nach diesem Einstieg hätte ich erwartet, dass Sie mir widersprechen. Tun Sie aber gar nicht. Sie führen nur Gründe auf, warum die Straße in die Krise geriet. Die meisten davon finde ich wenig plausibel. Klar, die City West fürchtete um Ihr standing, und Linke sind von Luxusmeilen* in der Regel wenig begeistert. Aber warum sollte das Leute, die Luxusmeilen mögen, vom Einkauf dort abhalten? Oder der U-Bahnbau Unter den Linden: Der hat den Linden lange nicht gutgetan, aber von den 90er-Topp-Quartieren in der Friedrichstraße war er mehrere Blocks entfernt.


    Auch eine Moll-Tönung habe ich zumindest als junger Provinzler nicht wahrgenommen. Im Gegenteil: Als ich in den 90ern zum ersten Mal nach Berlin kam, war die Friedrichstraße eines meiner Pflicht-Ziele, weil sie überall angepriesen wurde. Was soll ich sagen: Die Passage im Quartier 206 fand ich toll, aber sie war schon damals verwaist. Das Lafayette empfand ich (anders als das KdW) nach den hymnischen Erzählungen aus der Presse als herbe Enttäuschung (seit acht Jahren wohne ich in Berlin, und ich bin nicht einmal dortgewesen). Ganz schnell war ich am Gendarmenmarkt, der mich wesentlich stärker beeindruckt hat.

    Die Kolonnaden ab Dussmann bis VW waren immer gut besucht und sind dies bis heute.

    Stimmt. Die Straße brummt zwischen UdL und Oranienburger – was sich noch verstärken wird, wenn das Tacheles-Viertel fertig ist. Auch von Einschränkungen durch den U-Bahnbau war dort nichts zu merken. Nur sagt das über die Anziehungskraft der südlichen Friedrichstraße wenig aus.


    Wie gesagt: Ich bin selbst unentschlossen. Im Prinzip habe ich gar nichts gegen das alte Konzept mit Fußwegen und Straße (nur die Parkplätze stören mich). Ich habe aber auch nichts gegen Versuche seitens der Stadt, die absinkende** Gegend zu beleben. Ob die vorliegenden Entwürfe dafür taugen, sehe ich skeptisch. Doch die Erzählung, wonach alles gut geworden wäre, hätte man es nur gelassen, wie es war – die überzeugt mich so gar nicht.


    * Ich habe übrigens nichts gegen Luxus. Drücke mir gern an den Schaufenstern von Wempe die Nase platt und schaue den mechanischen Präzisions-Großuhren beim Ticken zu, auch wenn ich sie mir nicht leisten kann.

    ** Der Boom als Büroadresse widerspricht nicht dem Absinken als Geschäftsviertel. Eher im Gegenteil: Je weiter der Wandel zum Büroviertel voranschreitet, desto weniger ist auf der Straße los.

  • Genau dieses Antiaufklärerische der Gerechten oder Geläuterten, die im Weltbild des Klimawandels, Artensterbens oder was auch immer für eine Katastrophe die Opfer vor allem vom Nächsten erwarten.

    Nun werden ja der Klimawandel und das Artensterben (und die Überfischung der Meere und die Erosion der Böden, etc.) von Forschern attestiert, die ganz dem aufklärerisch-positivistischen Weltbild des Messens, Zählens und Kategorisierens verpflichtet sind. Schon möglich, dass manch anti-aufklärerischer Spinner daraus ein vulgär-rousseau`sches "Zurück zur Natur" ableitet. Aber was ändert das am Attest, dass die Menschheit ihre eigene Existenzgrundlage untergräbt?

    Deshalb Antiaufklärerisch weil das Fahrradfahrer-Prinzip hier durchschlägt. Der Minijobber soll seinen Billigflug vereitelt bekommen, die Herrschaften oben müssen selbstverständlich Up to dieser Welt sein.

    Das ist eine Frage des Umgangs mit dem Befund und stellt nicht den Befund an sich in Frage.

    Was war Florenz vor den Untergangsideen eines Savonarola und was war es danach. Jaja die Untergangsideen waren damals direkt von Experte Gott bestätigt.

    Das sind so rhethorische Spielchen. Klingen beeindruckend, haben keinerlei Substanz. Den Savonarola könnte ich auch Ihnen andichten, wo Sie hier doch in einer Tour den Untergang der Zivilisation im ideologischen Wahn der Spaßfeinde prophezeihen. Wobei Love Parades und Biermeilen als Zweck menschlicher Emanzipation ohnehin fragwürdig sind. "Fun ist ein Stahlbad" (Adorno).


    @Mods: Kann mit dem Ursprungsbeitrag gern nach Ballin-Spamdau verschoben werden.

  • Ich bin ehrlich überrascht, wie viele hier einen negativen Bezug zu Fußgängerzonen haben. Mag ja sein, dass es das mehr bei kleineren Städten gibt (wobei ich jetzt Köln oder Frankfurt alles andere als klein oder provinziell finde). Aber ich als alter Berliner habe es je nach Gestaltung fast überall sehr gerne angenommen und geschätzt, egal wie groß die jeweilige Stadt war. Und was genau ist beim Einkaufen und Flanieren jetzt der Vorteil, wenn man statt viel Platz mit Bänken, Brunnen und Grün sowie netten kleinen (Ess- und Trink-)Tischen einen engen Weg mit permanenter Nähe zum Autoverkehr hat? Braucht man das wirklich als optische und akustische Kulisse, weil man sich sonst nicht in einer Großstadt fühlen kann? So etwas wie das Lafayette oder das Quartier 206 finde ich schon ziemlich großstädtisch und auch für den urbanen Raum eher überdurchschnittlich. Wenn solche Institutionen den "Straßenraum" etwas intensiver mit nutzen und gestalten könnten, fände ich das eine klare Aufwertung. Wo ich dagegen zustimme: Es muss künftig nicht nur höhere Aufenthaltsqualität, sondern auch noch bessere und vielfältigere Angebote geben. Sehr gerne auch etwas Kultur sowie eben ein paar gute Bistros und Restaurants mit kleinen Tischen (wobei das auf der Zeichnung ja mit angedeutet ist). Insgesamt sehe ich dann keinen Grund, weshalb das nicht angenommen werden sollte.

  • Dem kann ich nicht folgen. Strassen wie die Friedrichstrasse oder auch grosse Abschnitte des Ku'damm leiden an gescheiterter Monokultur: Man kann dort lediglich einkaufen - und obendrein in Läden, die es genausogut in jeder anderen europäischen Stadt geben kann. Ein hoher Filalisierungsgrad schafft ein Einkaufserlebnis, das in Berlin, in Deutschland und in Europa hundertfach identisch wiederholt werden könnte. Das in Verbindung mit den Effekten von Corona & E-Commerce entzieht solchen Strassen die Geschäftsgrundlage. Eine urbane Mischung ist nicht vollkommen verschwunden. Es gibt ein paar Restaurants, es gibt hochwertige Dienstleistung von der Arztpraxis bis zum Anwalt. Aber diese sind viel zu schwach ausgeprägt. Dass in Zukunft eine tragfähige urbane Mischung entsteht, nur weil man davor eine Bank aufstellt, ist eher unwahrscheinlich. Meines Erachtens hat daher die Friedrichstrasse nicht mal die Chance auf die Belebtheit einer spiessigen Fussgängerzone a la Wilmersdorfer. Denn Fussgängerzonen funktionieren in der Regel als Shoppingmeilen mit hohem Filialisierunggrad. Ein vollkommen rückwärtsgewandtes Konzept... Meine Prognose: Die stetige Erosion der Friedrichstrasse wird durch die jetzigen Pläne auf lange Zeit festgeschrieben. In 20, 30 Jahren kann's dann wieder spannend werden.

  • Oranien Vielleicht könntest Du zunächst etwas gründlicher lesen: Ich schreibe ja von einer Kombination aus mehr Platz (künftig objektiv der Fall), höherer Aufenthaltsqualität (subjektiv und gerade hier gibt es ja die für mich etwas überraschenden aber auch spannenden Differenzen) sowie vielfältigeren Angeboten (gerade hierzu scheint ja auch weitgehend Einigkeit zu bestehen).


    Ansonsten finde ich wie gesagt nicht, dass die Friedrichstraße beliebig rüber kommt. Gerade Lafayette und Q206 sind vom Namen wie auch von der Gestaltung her außergewöhnlich. Aber auch insgesamt wirken die Fassaden wertig bis edel und sicherlich nicht provinziell. Auch gibt es in der Nähe wichtige Sehenswürdigkeiten/Hotspots sowie eine starke Verkehrsinfrastruktur. Gerade kaufkräftige Touristen und Geschäftsleute gibt es im Umfeld somit genügend. Es gehört für mich daher auch nicht viel Phantasie dazu, dass es bei einem attraktiven Angebot auch wieder entsprechende Nachfrage geben könnte.


    Die mE entscheidenden Fragen sind, wie genau man die Flächen gestaltet und wie man das Angebot aufwertet. Mein erster Ansatz wäre wie angedeutet, dass man insbesondere die Alleinstellungsmerkmale wie Lafayette und Q206 stärker die Flächen vor dem Haus bespielen lässt. Beim 206 könnte ich mir beispielsweise vorstellen, ca. 3m vor dem Eingang Säulen im Design der Fassade mit etwas Werbung o.ä. aufzubauen.

  • Ich verstehe auch nicht, warum es eine notwendige Kausalität oder Korrelation von Fußgängerzonen und Monokultur geben soll.


    Hat da jemand irgendwelche Evidenz dazu abseits einer unbelegten "in der Regel"-Behauptung? Würde mich auch mit einer nachvollziehbaren theoretischen Kausalitätsbeschreibung als erstem Ansatz zufrieden geben.


    Jedenfalls wird es die Friedrichstraße nicht retten, wenn sie als Austragungsort abstrakter Metadebatten herhalten muss, die wenig oder garnichts mit der Straße vor Ort zu tun haben.

  • Ich komme gerade aus Strasbourg. Dort werden neben den vielen historischen Fußgängerzonen rund um die Kathedrale auch neue am Rande der Altstadt eingerichtet. Sprich Autoverkehr überwiegend raus und für Radfahrer und Fußgänger und vor allem Cafés und Restaurants mehr Platz, dazu viel Stadtgrün (hat hier in Strasbourg große Priorität wg. Klimawandels)


    So sieht es dann aus (noch vormittags)




    (Bilder von mir)

  • KaBa1, ja traurig sieht es aus, wie in Zukunft auch die Friedrichstraße, wenn es nach den Senatsplänen geht.


    Architektenkind, bei uns beiden treffen einfach die unterschiedlichen Vorstellungen einerseits bei dir vom bevormundenden und gängelnden und bei mir vom freiheitlichen und fortschrittsdenkenden Staat(s-Gesellschaft) aufeinander. Deine Vorstellung scheint im Moment den Vorzug zu genießen, wer jedoch Recht hat werden wir wohl erst in einer Generation feststellen können. Nur ein Beispiel: Die Regenbogenfahne gehört heute zum guten Ton, allerdings ist das Wort "Schwul" seit gut 20 Jahren das Schimpfwort Nummer eins auf Deutschen Pausenhöfen. Und da sage ich, Fortschritt sind nicht diese aufmerksamsüchtigen Zeichensetzer (vor allem bei als Demonstration getarnten Staatsprozessionen wie CSD) sondern dass es auch für Jugendliche mit anderer sexueller Orientierung kein Pausenhoftrauma mehr gibt.

    Wir beide haben eine Neigung durch unsere inhaltliche Opposition zueinander die Argumente des Anderen nur aus der Extremposition heraus lesen zu wollen.


    Interessant ist aber auch dass sich die Diskussion darüber an der Friedrichstraße entzündet. Voltaire, der alte Fritz, ja Reinhard Mey fragt sich heute noch welcher Friedrich das wohl sei.


    Zudem finde ich ihre Aussage interessant dass sie bei ihrem ersten Besuch in der Friedrichstraße vom Lafayette nicht beeindruckt waren. Mir ging es genau anders herum, ich war zufällig vor meinem ersten Besuch dort einige Wochen zuvor in Paris beim Original. In der Berliner Ausgabe faszinierte mich die glatte Modernität die ich durchweg als nobel empfand. Oder auch das Lindencorso, bevor der aus meiner Sicht geniale Innenraum vom Mäckler für das VW-Forum Zwangs-Profanisiert und damit zerstört wurde. Ob es die Halle des Westin, Dussmann mit seinem damals weißen glatten Wasserfall (heute ein sonderbares Pflanzenbiotop), ob es die Passage vom Lafayette bis Q205 war - ich habe so eine eigenwillige Art von Straße bis dahin noch nirgends gesehen. Mir hat es auf Anhieb gefallen. Wären wir uns damals begegnet hätten wir wohl da schon unsere unterschiedliche Wahrnehmung durchdiskutieren können.

    Und immer höre ich das Gejammer dass angeblich dieses oder jenes Geschäft nicht geht - aber konkret werden sie in ihren Aussagen auch nicht. Und ich sehe auch nicht warum der Senat zuständig ist diese Straße in diese oder jene Richtung zu verbiegen. Am Kudamm gibt es auch schwache Punkte, der Corso in Rom ist für viele Geschäfte auch nicht die erste Adresse und die Maximilianstraße in München besteht auch nur aus Filialisten - aber kommt man gleich auf die Idee diese Straßen mit Experimentierfeld zu machen? Ich würde mir gerne etwas Respekt und Würde für die Friedrichstraße einfordern.Wo ich mitgehe mit Ihnen ist der Abschnitt von der Leipziger Straße bis zur Zimmerstraße. Aber hier wissen wir doch alle dass die finale Bebauung am Checkpoint Charlie noch erhebliche Veränderungen bringen wird. Im Grund ist im Süden dann die Friedrichstraße tot, da der Mehringplatz sie abwürgt und das Thema Stadt quasi dank des Nachkriegsaufbaus (wahrscheinlich für immer) abtötet.


    P.S. Aber mal ein Vorschlag für Sie, wie wäre es wenn wir beide mit unseren unterschiedlichen Wahrnehmungen der Straße uns mal verabreden und die Strecke vom Oranienburger bis zum Halleschen Tor ein Streitgespräch führen, das aufnehmen und hier hochladen. Wäre mal eine andere Art von Forumsbeteiligung. Ich wäre interessiert, denn ich glaube das wäre für den Hörer und auch für Nicht-Berlin-Kenner eine abwechslungsreiche und interessante Sache.

  • Architektenkind, bei uns beiden treffen einfach die unterschiedlichen Vorstellungen einerseits bei dir vom bevormundenden und gängelnden und bei mir vom freiheitlichen und fortschrittsdenkenden Staat(s-Gesellschaft) aufeinander.

    Ich bin Ihre Projektionen leid. Punkt.