„Enteignung, die: Entziehung des Eigentums an beweglichen oder unbeweglichen Sachen oder sonstigen Vermögensrechten durch staatlichen Hoheitsakt. Die E. soll dazu dienen, die entzogene Sache zum Wohl der Allgemeinheit einem anderen, als höherwertig geltenden Verwendungszweck zuzuführen. Sie ist von der Einziehung (Konfiskation) und der Sozialisierung (Vergesellschaftung) zu unterscheiden.“
Enteignung war ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Verkehrswegebau und später auch im Städtebau ein wichtiges Instrument geworden, sei es zur Entziehung ganzer Grundstücke, sei es zur Belastung mit Geh- Fahr- und Leitungsrechten, zur Duldung von Bauwerken auf oder unter dem Grundstück oder an Gebäuden. Sie ist auch heute noch gang und gäbe, aber seltener. Unmittelbar nach dem Krieg schien ein Wiederaufbau ohne Enteignung nicht vorstellbar – jedenfalls in Frankfurt. Das Kriegsende vor 75 Jahren ist Anlass das Aufbaugeschehen in Frankfurt unter diesem Aspekt zu betrachten.
Wiederaufbau über alles!
Vor dem Krieg galt in Frankfurt preußisches Enteignungsrecht. Auf Antrag war der Stadt durch Königlichen, später ministeriellen Erlass ein auf den Einzelfall beschränktes Enteignungsrecht verliehen worden. Erst nach öffentlicher Bekanntmachung des Enteignungsrechts im Amtsblatt wurde das eigentliche Enteignungsverfahren durchgeführt. Die letzten Frankfurter Enteignungen nach diesem Verfahren betrafen 1928 Grundstücke für den Neubau der psychiatrischen Heilanstalt in Niederrad, den Bau einer größeren Wasserleitung und für die Nidda-Begradigung.
Wegen der Auflösung des Landes Preußen durch die Siegermächte, Gründung des Landes Hessen und Inkrafttreten des Grundgesetzes war das preußische Enteignungsrecht für den Wiederaufbau nicht weiter anwendbar. Die Aufbaugesetze der Bundesländer errichteten ein aus heutiger Sicht rigides Regime: Wiederaufbau über alles! Aufbauhindernisse sollten effektiv überwunden werden können: durch ein schlankes Planungsrecht und Grundstückenteignungen, massenhaft, schnell und mit einem einfachen Verfahren; einfach im Vergleich zur alten Regelung hieß, die Stadt konnte ohne vorherige Genehmigung unmittelbar selbst enteignen.
Unter dem Titel „Enteignung im Fluchtlinienverfahren“ regelte das „Gesetz über den Aufbau der Städte und Dörfer des Landes Hessen“ vom 25.10.1948 (HAG) u.a. die Enteignung von Grundstücken „zur Bebauung oder Wiederbebauung unbebauter oder bebauter Grundstücke, die nach den ortsbaurechtlichen Vorschriften wegen ihres geringen Flächeninhaltes für sich allein nicht bebaubar sind (Kleingrundstücke), sofern sie in einem von förmlich festgestellten Fluchtlinien umschlossenen Baublock liegen“. Geringer Flächeninhalt hieß in Frankfurt nach einer Ortssatzung vom 21.7.1949: kleiner als 300 m²; das galt für das gesamte Gebiet der Innenstadt-Bausperre (es gab noch andere Gebiete mit Bausperre aber ohne Mindestgröße).
Betrachtet man die alte Stadtkarte, erkennen wir die große Zahl teils extrem kleiner Grundstücke. Der Baublock „Töngesgasse > Trierische Gasse > Schnurgasse > Ziegelgasse > Liebfrauenberg“ beispielsweise (in dessen Zentrum heute die Kleinmarkthalle steht) umfasste laut Adressbuch 134 Hausgrundstücke. Die Grundstücksgrößen reichten von etwas größer als 20 m² bis knapp 530 m², der Median lag bei ca. 84,5 m², d.h. die Hälfte der 134 Liegenschaften war kleiner als 85 m², nur 27 Grundstücke waren größer als 150 m², davon nur 14 größer als 200 m². Selbst größere Parzellen waren häufig extrem ungünstig geschnitten. Es liegt auf der Hand, dass der Wiederaufbau ohne Schaffung großer Baugrundstücke nicht gelingen würde.
Grafik: Stadtvermessungsamt Frankfurt am Main, Stadtkarte 1950
Bevor aber Enteignung für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser Wirkung entfalten konnte, trat 1953 das Baulandbeschaffungsgesetz in Kraft, ein Bundesgesetz, das die Möglichkeiten der Enteignung einerseits stark erweiterte (z.B. Enteignung zu Gunsten privater Wohnungsbauherren, Enteignung für Gewerbebetriebe), andererseits aber eine Pflicht zum Ankauf bestimmte und Enteignung nur noch als ultima ratio zuließ, und die landesrechtlichen Enteignungsregeln in puncto Wohnungsbau ersetzte.
Nicht so für für den Bau von Straßen, Parkhäusern, Schulen und öffentlichen Einrichtungen; hierfür war die Enteignung umso wichtiger, weil nicht zuvor der Ankauf versucht werden musste. Wir erkennen in der alten Stadtkarte viele schmale und winkelige Gassen, teils keine drei Meter breit, und selbst die breiteren Straßen entsprachen den Verkehrsbedürfnissen nicht mehr. Aufbauend auf den Ergebnissen des „Hauptstraßen-Wettbewerbs“ von 1946/47 sah der Generalfluchtlinienplan von 1948 die Verbreiterung der Straßen vor, die Nord-Süd-Straße vom Friedberger Tor zur Alten Brücke und die Ost-West-Straße vom Börneplatz zum Theaterplatz sollten 34 m breit werden, die Nebenstraßen ebenfalls deutlich breiter als früher, viele Gassen sollten komplett eingezogen und zu Baufläche werden. Allein für die Verbreiterung des Straßenzuges Battonstraße - Schnurgasse - Weißfrauenstraße (heute: Berliner Straße) wurden über 100 zumeist private Flurstücke mit einer Gesamtfläche von über 10.000 m² ganz oder teilweise benötigt.
Grafik: Stadtvermessungsamt Frankfurt am Main, Stadtkarte 1950
Ab Mai 1949 erließ die Stadt praktisch im Wochentakt Fluchtlinienpläne, woraus sich ergab, welche Flächen im geplanten Straßenraum lagen und welche bebaubar blieben; in den Bauflächen wurden kleine Parzellen zu großen Bauflächen zusammengelegt. Während die Bauflächen von den Großbaugesellschaften (Frankfurter Siedlungsgesellschaft, FAAG, AG für Kleine Wohnungen, Neue Heimat, Nassauische Heimstätte u.a.), aber auch private Investoren fast durchwegs käuflich erworben wurden, enteignete der Magistrat zur Beschleunigung des Straßenbaus, nicht zuletzt unter dem Druck der sprunghaft steigenden Motorisierung, private Grundstücke in großer Zahl – die FAZ hat die Enteignungspraxis öfter als „Frankfurter Weg“ bezeichnet, andernorts bestaunt, weil der Aufbau tatsächlich schneller gelang als in anderen Städten, aber anscheinend in diesem Umfang nirgends nachgeahmt. Beschritten hatte der Magistrat den rigiden „Frankfurter Weg“ schon 1945 mit der Beschlagnahme der Trümmer zur Herstellung von Baumaterial und der zwangsweisen Räumung der Trümmerflächen, drei Jahre bevor die Länder dies in ihren Aufbaugesetzen regelten.
Natürlich war diese Form der Massenenteignung höchst umstritten, viele betroffene Eigentümer haben sich gegen die Enteignungen gewehrt. Die FAZ berichtete im Mai 1955 von über 1.000 Enteignungsverfahren, von 120 Prozessen vor den ordentlichen Gerichten und 50 vor den Verwaltungsgerichten. Anscheinend ist das Frankfurter Enteignungsgeschehen auch besonders häufig höchstrichterlich beurteilt worden, der BGH hat von 1954-1963 mindestens 50 Enteignungsfälle aus Frankfurt entschieden, jedenfalls sind in diesem Zeitraum 50 BGH-Urteile zu Frankfurter Enteignungen veröffentlicht worden; in einem der Urteile hieß es, in Frankfurt habe es Hunderte von Enteignungsprozessen gegeben. Das war wirklich viel, wenn man bedenkt, dass etwa die Stadt Köln in vergleichbarer Situation auf Enteignungen verzichtet hat.
Die Preisfrage
Hatte die Stadt allergrößtes Interesse an niedrigen Entschädigungen, kämpften die Betroffenen natürlich für möglichst hohe Entschädigungen, angesichts der Vielzahl von Enteignungen, war der Magistrat zwangsläufig besonders streitbar, es ging um sehr viel Geld. Während die Gerichte die Enteignung an sich für zulässig hielten, entschieden sie bei der Höhe der Entschädigungen sehr oft für die Kläger, der Streit um‘s Geld drehte sich um Bewertungsverfahren, Bewertungsstichtage, Stoppreise, Vergleichspreise...
Entschädigt wurden Grund und Boden, so wollte es das Aufbaugesetz, zum gemeinen Wert am 1.1.1935, bauliche Anlagen zum Wert im Zeitpunkt der Enteignung. Für die vorzeitige Aufhebung von Miet-, Pacht- und sonstigen Nutzungsrechten war ebenfalls eine Entschädigung zu gewähren, bei Bauten ohne Baugenehmigung oder behelfsmäßigen Ein- und Ausbauten in Gebäuderuinen konnte davon abgesehen werden.
Der gemeine Wert wird durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Veräußerung zu erzielen wäre. Dabei sind - von ungewöhnlichen und persönlichen Verhältnissen abgesehen – alle preisbestimmenden Umstände zu berücksichtigen. Gewöhnlicher Geschäftsverkehr ist der Handel am freien Markt, bei dem Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen. Zur Beschaffenheit des Wirtschaftsguts zählen die ihm eigenen Merkmale (z.B. Lage, Größe und Zuschnitt eines Grundstücks) und von außen kommende Momente verschiedener Art (z.B. Wegerechte, Bauauflagen, Abbruchverpflichtungen). Was aber war nach anderthalb Jahrzehnten Preisstopp, totaler Zerstörung und Bausperre ein normaler Geschäftsverkehr?
(wird fortgesetzt)