Zeil 121 (ehm. Ott & Heinemann) -I-
Wer aufmerksam die Zeil nach Westen Richtung Hauptwache schlendert, wird vielleicht bemerken, dass linker Hand ein Gebäude ohne ersichtlichen Grund mehrere Meter vor der Baufluchtlinie der Zeil-Südseite steht: es ist die Zeil 121. Ich würde diesen Umstand hier nicht erwähnen, wenn er nicht das Resultat eines Rechtsstreits wäre, den die vormaligen Eigentümer gegen die Stadt Frankfurt geführt haben.
Bild von mir
Prolog
Die Recherche zur Zeil 121 führt uns zunächst zum Bekleidungshaus Ott & Heinemann, in die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg und zu den Büchern von Franz Lerner „Das tätige Frankfurt“ (1955) und „Frankfurt am Main und seine Wirtschaft“ (1958). Er berichtet, dass der Wiederaufbau mit Schwierigkeiten verbunden war, ohne dies näher auszuführen. Bei Lerner liest man in der Regel Erfolgsgeschichten aus der Frühzeit des Wirtschaftswunders, Hinweise auf die Tradition der Unternehmen, verbunden mit einem Rückblick auf ihre Firmengeschichte. Dass der Bericht über Ott & Heinemann mit den Schwierigkeiten beim Wiederaufbau beginnt ohne zu erwähnen, was dort wieder aufgebaut wurde, jeder Hinweis auf die Vorkriegszeit fehlt, macht uns stutzig, denn selbstverständlich hatten Ott & Heinemann wie auch das Haus selbst eine Vergangenheit.
Gebr. Hoff (gegr. 1825)
1905 hatten die Gebrüder Hoff an der Liebfrauenstraße/Ecke Zeil ein großes Geschäftshaus errichten lassen, worin sie selbst ihren 1825 gegründeten Großhandel für Seiden, Manufakturwaren und Stoffe eröffneten und nicht benötigte Ladenflächen an die Fa. Gustav Carsch & Co vermieteten, die ihrerseits ein Geschäft für Herren- und Knabenmoden am Liebfrauenberg hatte und nun hier einen zweiten Laden bezog. Die Firma Gustav Carsch & Co hatte ihren Sitz nach dem Verkauf des Stammhauses in Gelsenkirchen schon in den 1870er Jahren nach Frankfurt verlegt. Nach dem Tod des Firmengründers übernahm der ältere Sohn Paul die Geschäfte und forcierte die Expansion des Unternehmens; hervorzuheben ist das 1913 gebaute Carsch-Haus in Düsseldorf. Niederlassungen gab es außer in Frankfurt und Düsseldorf noch in Höchst a.M. (Königsteiner Straße 5), in Hanau und Oberhausen.
Bild: gemeinfrei, Auszug einer Postkarte von 1910, veröffentlicht von Mylius in wikimedia
Gustav Carsch & Co
Mit Einwilligung der Eigentümer Adolf und Alfred Hoff beantragte Gust. Carsch & Co am 12.10.1927 mit dem Entwurf des Frankfurter Architekten Willi Cahn (Börsenstraße 2-4) den Umbau des gesamten Gebäudes; damit einher ging die Schließung des Hoff’schen Geschäfts und Nutzung des gesamten Hauses durch die Firma Carsch.
Balkone, Schmuckgesimse und -giebel wurden entfernt, die Fassade ganz im Stil der Zeit geglättet und mit Art-decó-Elementen versehen. Das Carsch-Haus auf der Zeil galt bei seiner Eröffnung Ende 1928 als ein Exempel des Neuen Frankfurt. Neben Verkaufsräumen im Parterre, dem 1. und 2. OG (zur Zeil hin), wurden zur Liebfrauenstraße hin in den Obergeschossen große Werkstätten für Maß- und Konfektionsschneider sowie Bügelräume eingerichtet. Das 3. OG barg Büros, die Telefonzentrale, die Kartothek, den Offertenraum und das Stoff- und Futterlager. Im Dachgeschoss gab es noch Wohnungen, die aber später zu Werkstatträumen umgenutzt werden sollten. Aus den Berechnungen der Baupolizei zur Personalstärke der Hausfeuerwehr wissen wir, dass dort etwa 70 Personen ständig arbeiteten, hinzu kamen bei Ausverkäufen und im Weihnachtsgeschäft bis zu 20 Aushilfen.
Bild: gemeinfrei (veröffentlicht im Adressbuch von 1937)
Abb.: Institut für Stadtgesichte, Bauaufsicht, Sig. 461Foto: Kaufhaus Carsch 1928, gemeinfrei
Die Skizzen sind Anlagen zu Bauanträgen für Fassadenwerbeanlagen, die für Sonderverkaufsaktionen jeweils beantragt wurden. Das Foto wurde 1932 veröffentlicht in: Das Neue Frankfurt
Bei Recherchen zum Kaufhaus Carsch wird man meistens nur auf das Carsch-Haus in Düsseldorf verwiesen, das viel größer und anscheinend auch der Sitz der Geschäftsleitung war, nachdem Paul Carsch die Firma vom Vater übernommen hatte. Die Niederlassungen im Rhein-Main-Gebiet leitete sein Bruder Siegfried, der mit seiner Familie in der Holzhausenstraße wohnte. Siegfried Carsch war ebenfalls Textilkaufmann und zuvor schon über viele Jahre Mitinhaber von „Bonn & Carsch“, bei der Eröffnung 1928 gab es noch einen Laden von „David Bonn“ im Haus.
Eintrag im Frankfurter Adressbuch Jg. 1932
Wer waren Hans Ott & Erich Heinemann?
Der Erfolg des expandierenden Unternehmens war jedoch nur von kurzer Dauer. Unter dem Druck der seit 1933 nach und nach errichteten Schikanen des NS-Staates gegen jüdische Bürger und gegen jüdische Geschäfte war auch die Familie Carsch gezwungen, ihre Kaufhäuser an „Arier“ zu verkaufen. Ihre Firma wurde 1936 arisiert, d.h. nach dem Verkauf der Geschäfte und aller Liegenschaften an verschiedene „arische“ Übernehmer wurde sie liquidiert. Die beiden Frankfurter Geschäfte verkauften die Carschs an Hans Ott und Erich Heinemann, die eigens zu diesem Zweck im Jahr 1936 die Ott & Heinemann KG gegründet hatten.
Hans Ott war ein Gutsbesitzer aus dem Saarland, verheiratet mit Ilse Hofer, die ihrerseits der Erbengemeinschaft nach Carl und Richard Hofer angehörte, die eine 40%-Beteiligung an der Gebrüder Hofer AG hielt, einem alteingesessenen Saarbrücker Druck- und Verlagshaus, das damals u.a. die Saarbrücker Zeitung herausgab. Im Zuge der Gleichschaltung der Presse waren alle Anteilseigner der Hofer AG 1935 gezwungen worden, ihre Geschäftsanteile an die NS-Treuhandgesellschaft Konkordia GmbH und die NS-Verlagsanstalt Vera GmbH zu veräußern, wie es hieß mit Verlust. Auf der Suche nach einer neuen Kapitalanlage kam er über eine Vermittlungsgesellschaft mit dem damals 40-jährigen Erich Heinemann zusammen, der bereits in Verhandlungen mit der Firma Gust. Carsch & Co stand. Da Heinemann jedoch nicht über genügend Kapital verfügte, wirkte Hans Ott als Geldgeber an der Übernahme mit, während Erich Heinemann anschließend als persönlich haftender Gesellschafter und Geschäftsführer der zum Zweck der Übernahme gegründeten Ott & Heinemann KG war; über seine Herkunft und seinen beruflichen Werdegang ist nicht viel bekannt, eigentlich nur, dass er leidenschaftlicher Brieftaubenzüchter war.
Gemessen am vertraglichen Kaufpreis von 700.000 RM wird der Verkauf von Carsch & Co unter den zehn größten Arisierungen in Frankfurt aufgeführt (Benno Nietzel, Handeln und Überleben: Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924–1964; Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 204, Göttingen 2012, S. 245); ob der Kaufpreis, wie in anderen Fällen, weit unter dem Wert des Unternehmens lag wissen wir nicht, Haus und Grund gehörten ja weiterhin den Gebrüdern Hoff; die Übernahmeverhandlungen sollen aber in äußerlich korrekter Form und ohne Eingriffe von Parteiinstanzen verlaufen sein (Nietzel, a.a.O., S. 249).
Eintrag im Frankfurter Adressbuch, Jg. 1937
Bereits im Adressbuch von 1937 gibt es in Frankfurt „Gust. Carsch & Co“ nicht mehr; das Wohnhaus von Siegfried Carsch in der Holzhausenstraße musste 1938 verkauft werden. Die Familie Carsch emigrierte 1938 in die Niederlande. Nach der Besetzung der Niederlande überlebte Paul Carsch mit seiner Familie in einem Versteck in Amsterdam. Paul Carsch starb dort 1951; was aus Siegfried Carsch wurde, wissen wir nicht.
Schon Ende 1945 hatte der von der Militärregierung eingesetzte „Prüfungsausschuss für Arisierungsfragen“ eine Meldepflicht für alle Unternehmen eingeführt, die nach dem 30.1.1933 Vermögen, Vermögensteile oder Interessen von jüdischen Unternehmen oder aus jüdischen Unternehmen erworben haben. Zwei Jahre später wurden dann aufgrund des in der amerikanischen Besatzungszone erlassenen Militärgesetzes Nr. 59 vom 27.11.1947 über die „Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen“ die Umstände der Übernahme von Teilen des Carsch-Vermögens durch Ott & Heinemann überprüft.
Danach bestand die gesetzliche Vermutung, dass zwischen Eigentumsübertragung und Verfolgung ein Zusammenhang bestand. Der Antragsteller hatte lediglich nachzuweisen, dass er tatsächlich verfolgt worden war. Diese Nachweispflicht entfiel, wenn der Antragsteller – wie die Familie Carsch - zu einer Gruppe gehörte, die die „deutsche Regierung oder die NSDAP wegen ihrer Rasse, Religion oder Weltanschauung aus dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands auszuschließen beabsichtigte.“ Das bewirkte eine Beweislastumkehr, d.h. wer Eigentum von Juden erworben hatte, musste die gesetzliche Entziehungsvermutung widerlegen.
Ott und Heinemann mussten deshalb in einer gesetzlich festgelegten Form beweisen, dass ihr Erwerb nicht auf unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen oder auf der allgemeinen Verfolgungssituation beruhte. Hierbei war der Zeitpunkt des Erwerbs von entscheidender Bedeutung. Hatten die „Ariseure“ Eigentum von Juden vor dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze, also vor dem 15. September 1935 erworben, reichte der Nachweis eines angemessenen Kaufpreis sowie Zahlung unmittelbar an den Verfolgten. Hatte der Erwerb nach dem Stichtag stattgefunden, hatte der Erwerber zusätzlich glaubhaft zu machen, dass der Verkauf auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus zustande gekommen wäre und er sich in besonderer Weise um die Vermögensinteressen des Verfolgten gekümmert hatte, z.B. durch aktive Hilfe beim Transfer des Verkaufserlöses ins Ausland. Scheiterte der „Ariseur“ schon am Nachweis eines angemessenen Kaufpreises, musste er seinen Besitz an den rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben.
Tatsache ist, dass sich Ott und Heinemann 1948 in einem Restitutionsverfahren zur Übernahme der Carsch-Geschäfte erklären mussten; zu welchem Ergebnis dies bei der Ott & Heinemann KG führte, könnte man wohl herausfinden, es würde aber an dieser Stelle den Rahmen sprengen, immerhin ist die Ott & Heinemann KG nach dem Krieg, vielleicht infolge dieses Verfahrens, aufgelöst worden.
Aus dem Handelsregister wissen wir, dass Erich Heinemann im April 1948, während das Restitutionsverfahren lief, allein oder gemeinsam mit anderen mit einem Kapital von 200.000 RM die Erich Heinemann GmbH gründete, als deren Geschäftszweck die „pachtweise Übernahme und Weiterführung des unter der Fa. Ott & Heinemann geführten Einzelhandelsgeschäfts“ angegeben wird. 1949 firmierte die Heinemann GmbH in Ott & Heinemann GmbH um und erhöhte nach und nach ihr Stammkapital, 1959 auf 500.000 DM. Rechtlich gesehen war die Ott & Heinemann GmbH eine Neugründung nach dem Krieg und keine Umwandlung der alten, 1936 zum Zweck der Arisierung des Carsch-Vermögens, gegründeten KG, nur den Namen „Ott & Heinemann“ haben sie übernommen. Hans Ott und andere Angehörige der Hofer-Familie haben nach dem Krieg ein Restitutionsverfahren auf Rückgabe oder Entschädigung ihrer Aktienanteile an der Hofer AG betrieben.
Warum von all dem bei Lerner 1958 nichts zu lesen ist, erklärt er im Nachwort seines Buches:
„Andererseits kann ich nicht umhin, an dieser Stelle offen zu bekennen, dass ich mich nicht mit allen Stellen dieses Buches identifizieren kann. In einer Reihe von Fällen wurden die Werbeabteilungen der Unternehmen mit der Durchsicht der Ihnen gewidmeten Abschnitte betraut. Ihrer ganzen Einstellung nach, die der Zukunft und der Gewinnung neuer Aufträge zugewandt ist, liegt Ihnen die historische Betrachtung fern. Darum haben sie vielfach eine Kürzung der die Entwicklung behandelnden Ausführungen zu Gunsten der gegenwärtigen Tatsachen gewünscht und auch manche kritische Wendung mit Rücksicht auf Ihre Bedürfnisse abgelehnt, hie und da sogar mitgeteilte Zahlen zurückgezogen. Durch die Zusicherungen, die der Verlag den Unternehmen geben musste, um Ihre Mitwirkung zu erlangen, fühlte ich mich gebunden und habe diesen Änderungswünschen soweit, wie sie mir vertretbar erschienen, nachgegeben. Bewusst habe ich mich auf keine Diskussionen eingelassen, weil ich davon nur beiderseitige Verstimmung befürchten musste. Dass ich diese Korrekturen meiner historischen Betrachtungen nur schweren Herzens gebilligt habe, wird mir hoffentlich niemand verargen. Dem kritischen Benutzer muss sich das an dieser Stelle darum offen bekennen, um mir ungerechtfertigte Vorwürfe zu ersparen. Es handelt sich jedoch nur um eine begrenzte Anzahl von Fällen (…).“ (Lerner, Frankfurt und seine Wirtschaft, 1958, S. 559)
Einer dieser Fälle war also Ott & Heinemann, die jeden Hinweis auf ihre Beteiligung an der Arisierung des Carsch-Hauses, den Zeitpunkt und die Umstände ihrer Firmengründung vermieden.